Zieh deine Schuhe aus!

Predigt zum 3. Fastensonntag (Ex 3,1-8a.13-15)

Es war eine meiner schönsten Schulstunden. Ich ließ Bänke und Stühle an den Rand des Klassenzimmers räumen, den Kindern die Augen verbinden und legte auf den Boden des Klassenzimmers verschiedene Materialien aus: Eine Feder, Gras, Laub, Baumrinde, Schnüre, Teppichfließen, Eisenstücke, Steine, Tannenzapfen, Papier u.s.w. Anschließend führte ich die Kinder vorsichtig über die Materialien. Sie hatten die Aufgabe, zu erraten, über welche Materialien sie schreiten. Die Kinder errieten in den wenigsten Fällen das jeweilige Material.

Zum zweiten Versuch bat ich die Kinder, ihre Schuhe ausziehen. Sie gingen jetzt barfuß über die verschiedenen Materialien. Und siehe da: Fast alle konnten die ausgelegten Materialien identifizieren. Wir nahmen die Bibel und lasen dann die Geschichte von Mose und dem brennenden Dornbusch. Ich fragte die Kinder: Was soll denn diese komische Anweisung: Zieh deine Schuhe aus! Die Kinder kapierten schnell: Barfuß ist man zwar verletzlicher, aber man spürt mehr und wird empfindsamer. Und den Kindern fiel es gar nicht schwer, diese Erfahrung auf die Beziehung zu Gott zu übertragen. Auch hier stimmt: Empfindsame Menschen spüren von Gott mehr als Dickhäuter. Sensible Menschen kommen ihm leichter auf die Spur als die, die sich mit einem Panzer umgeben, egal welchen Namen dieser Panzer hat. Zum Leben stiller und nachdenklicher Menschen gewinnt Gott eher Zugang als wenn er erst durch große Oberflächlichkeitskorridore und Geräuschkulissen hindurchdringen muss. Stille, Empfindsamkeit, Sensibilität, das waren schon immer Vorhallen, die in den Tempel der Gotteserfahrung führten.

Ich denke, was von der Beziehung zu Gott gilt, das gilt auch für die Beziehung zum Menschen. Wenn wir einem Menschen wirklich begegnen wollen, ihm näher kommen wollen, ist es unsere Aufgabe, im übertragenen Sinn, unsere Schuhe auszuziehen. Wenn wir das Lebensumfeld und den Lebensbereich eines Menschen betreten, dann gilt auch hier: Zieh deine Schuhe aus! Hier ist heiliger Boden. Empfindsamkeit, Sensibilität, Respekt – das sind die Haltungen mit der ich Menschen nahe kommen darf und die den Boden bereiten, dass sich ein Mensch öffnen kann.

Zieh deine Schuhe aus! Hier ist heiliger Boden! Zieh deine Schuhe aus vor Gott und dem Menschen! Welch einfache und einprägsame Regel für das Gelingen der Beziehung zu Gott und dem Menschen.


Pfarrer Stefan Mai

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