„Sie aber waren eingeschlafen...“

Predigt zum 2. Fastensonntag (Lk 9,28-36)

In unserer Sprache gibt es die Redewendung vom „Kirchenschlaf“. Mit diesem sprichwörtlich gewordenen Kirchenschlaf bezeichneten frühere Generationen das Einnicken während der Predigt, was natürlich kein besonders gutes Licht auf die Attraktivität einer Predigt wirft. Und es ist direkt lustig zu lesen, dass es in vergangenen Jahrhunderten eigene Kirchendiener gab, die mit einer Patsche während der Predigt umher gingen und jeden Predigtschläfer mit einem leichten Schlag auf den Kopf wieder in die Realität des Gottesdienstes zurückholten.

Diese Art von Kirchenschlaf bereitet mir keine Sorgen, denn bekanntlich soll er einer der erholsamsten sein. Sorgen bereiten mir andere Spielarten des Kirchenschlafes:
Da gibt es den Schlaf der Sicherheit. Wir wissen schon alles. Wieso sich mit den modernen Strömungen unserer Zeit überhaupt auseinandersetzen? Allein wir haben die wahre Lehre! Die Glaubenswahrheiten und Moralanweisungen kennen wir im Schlaf. Wir stehen auf der richtigen Seite. Wir brauchen keine neuen Überlegungen, wie sich Kirche in unserer Zeit neu aufzustellen hat. Der Kirche kann nichts passieren, behaupten die Vertreter dieser Form des Kirchenschlafs. Das sind „Pförtz“, über eine Stadtkirche der Zukunft nachzudenken. Sollen sie doch alles lassen wie es war.
Daneben gibt es den Schlaf der Müdegewordenen. Man hat sich lange in dieser Kirche eingebracht, ehrenamtlich Zeit und Kraft investiert. So viele gute Vorsätze, Hoffnungen und Träume gehabt. So vieles ausprobiert. Doch was ist unter dem Strich dabei herausgekommen? Kein großer nennenswerter Erfolg. Nichts, wo man sagen könnte: Das war ein großer Erfolg. Das hat die Kirche nach vorne gebracht. Und nicht einmal das Gefühl: Es wird einem dafür gedankt.
Die dritte Form des Kirchenschlafs ist der Schlaf der Trägheit. Man lässt sich halt so mittragen, führt so eine Art unreflektiertes Konsumentendasein. Wenn mir danach zumute ist, nehme ich ein paar Angebote wahr, aber selbst für eine lebendige Kirche den Finger krümmen, dafür sind andere da. Ich will in Ruhe gelassen werden.
Und es gibt den Schlaf der Enttäuschung oder der totalen Resignation. Irgendwann wurde ich einmal von dieser Kirche so enttäuscht, verletzt oder im Stich gelassen, sodass mir nur eine Reaktion bleibt: Abschalten und wegschauen. Oder Gott hat mich in schwierigen Lebensphasen sitzen lassen, obwohl ich ihn doch so angebettelt habe. Am besten versucht man alles zu vergessen, so wie die menschliche Natur sich dadurch zu helfen scheint, dass sie betäubt abschaltet, wenn das Leid übergroß wird.
Im heutigen Evangelium begegnen uns drei, die voller Ideale, guter Hoffnung und guter Dinge waren, als sie mit Jesus aufbrachen. Sie wollten mit ihm die Welt bewegen: Petrus, Johannes und Jakobus. Aber der Weg wurde anstrengender als sie glaubten. Sie sind müde geworden. Und jetzt, ausgerechnet in einem Moment, in dem die Herrlichkeit Gottes in Jesus aufstrahlt, schlafen sie. „Petrus und seine Begleiter aber waren eingeschlafen“, erzählt Lukas. Im letzten Moment wurden sie jedoch wach und sahen Jesus im strahlenden Licht zusammen mit den großen Vorbildern Mose und Elija. Einen kleinen Zipfel der Herrlichkeit bekamen sie gerade noch mit. Und den will Petrus krampfhaft festhalten. Diesen Glücksmoment möchte er konservieren. Endlich auf der Sonnenseite des Lebens stehen.

Stutzig macht mich in der Einleitung der Verklärungsgeschichte des Lukas die scheinbar auf den ersten Blick eher nebensächliche Bemerkung: „Etwa acht Tage nach diesen Reden nahm Jesus Petrus, Johannes und Jakobus beiseite und stieg mit ihnen auf einen Berg, um zu beten.“ Wir wissen: Der achte Tag war in der urchristlichen Tradition der Sonntag, der Tag, an dem sich die Christen zum Gottesdienst und Gebet trafen. Ob nicht hinter dieser scheinbar zufälligen Anmerkung eine entscheidende Erfahrung steckt? Die Erfahrung: Der christliche Gottesdienst ist für müde und schläfrig Gewordene ein Ort, an dem urplötzlich etwas vom Geheimnis Gottes aufblitzen kann: In einem festlichen Augenblick, in einem erhabenen Gefühl, das mich überkommt. Der Gottesdienst ist ein Ort, an dem mir strahlende Vorbilder unseres Glaubens wie Mose und Elija vor Augen gestellt werden, die mit ihrer Lebensart Mut machen wollen. Der Gottesdienst ist ein Ort, an dem ich in niedergeschlagenen Lebenssituationen ein Wort aufschnappen kann, das mich bestärkt weiterzugehen, neue Versuche zu wagen, nicht aufzugeben. „Auf ihn sollt ihr hören!“

Liebe Leser, wer unseren Gottesdienst einmal von dieser Funktion her begriffen hat, ich glaube, der sagt: In acht Tagen sehen wir uns wieder, auch dann, wenn mich der „Kirchenschlaf“ in einer seiner Formen wieder einmal übermannt hat.


Pfarrer Stefan Mai

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