„Wenn der Mensch vergisst, dass er ein Königssohn ist“

Predigt zum 7. Sonntag im Jahreskreis (1 Sam 26,2.7-9.12-13.22-23; Lk 6,27-38)

Rabbi Schlomo von Karlin fragte: „Was ist die schlimmste Tat des bösen Triebs?“ Und er antwortete: „Wenn der Mensch vergisst, dass er ein Königssohn ist.“
Diese kleine Anekdote findet sich in Martin Bubers „Erzählungen der Chassidim“. In diesem sonderbaren Ratespiel geht es um das schlimmste Vergessen, um das Vergessen, dass wir Menschen in einem besonderen Vertrauensverhältnis zu Gott stehen und von ihm her unsere besondere Würde haben. „Was ist die schlimmste Tat des bösen Triebs?“ Und er antwortete: „Wenn der Mensch vergisst, dass er ein Königssohn ist.“ Rabbi Schlomo ist überzeugt: Wenn der Mensch diese Würde vergisst, dann ist dem bösen Trieb kein Einhalt mehr zu gebieten, dann hat dies Folgen für das Verhältnis der Menschen zueinander, vor allem wenn Menschen sich miteinander schwer tun, einander ablehnen oder gar feindselig einander gegenüber stehen.

Endlich bietet sich einem die Chance, es dem Widersacher heimzahlen zu können, endlich die Gelegenheit, sich zu rächen für das, was man erlitten hat. Wie ein gefundenes Fressen liegt der Verfolger Saul wehrlos im Schlaf vor David. Wie eine Ratte hatte König Saul mit seinen 3000 Mann David bis in die unzugänglichsten Höhlenlöcher der Wüste verfolgt. Wie einen Hund hatte er ihn gejagt, mit allen Mitteln wollte er den jungen Konkurrenten um den Königsthron ausschalten. Jetzt die Gelegenheit für David. Saul liegt schlafend vor ihm, der Speer steckt direkt neben seinem Kopf in der Erde. „Los auf, mit einem einzigen Speerstoß werde ich ihn auf den Boden spießen,“ flüstert sein Freund Abischai ihm zu. Doch David schrickt zurück: „Bring ihn nicht um! Denn wer hat je seine Hand gegen den Gesalbten des Herrn erhoben und ist ungestraft geblieben?“ Nicht um den ohnehin schon unter schweren Depressionen leidenden Saul zu demütigen, verschont David seinen Verfolger. Nein, er tastet das Leben von Saul nicht an, weil er in diesem Moment in Saul nicht seinen Feind sieht, sondern in ihm die Königswürde wahrnimmt. Und das lässt ihn über den bösen Trieb des Rachegelüstes hinauswachsen.

Rabbi Schlomo von Karlin fragte: „Was ist die schlimmste Tat des bösen Triebs?“ Und er antwortete: „Wenn der Mensch vergisst, dass er ein Königssohn ist.“

Auch Jesus ist überzeugt. Die einzige Einstellung, die dazu befähigt, einen Feind zu verschonen, ja ihn zu lieben, ist, in ihm die gleiche Würde zu erkennen, die auch ich als Mensch habe, nämlich die Beziehung zu Gott. Feindesliebe ist nach Jesus nur möglich, wenn ich ihm glaube: Weil auch Gott sich nicht rächt, verzichte auch ich auf Rache. Denn Gott macht es vor: „Auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.“

Liebe Leser, an dieser Forderung Jesu lässt sich nichts deuteln und abschwächen und zuhauf Ausnahmeregeln formulieren. Der Grund der Feindesliebe ist Gott selbst, der gütig ist zu den Undankbaren und Bösen. Und Jesus behauptet: dass ein Mensch Gott nie ähnlicher ist, als wenn er seine Feinde liebt. Dann sagt er, „werdet ihr Söhne und Töchter des Höchsten sein“, dann habt ihr etwas von Gott verstanden.

Wie schwer dies ist, weiß jeder Mensch, und wie weit wir dahinter zurückbleiben.
Es macht mich stutzig: Sofort in Anschluss an die Frage von Rabbi Schlomo: „Was ist die schlimmste Tat des bösen Triebs?“ Und er antwortete: „Wenn der Mensch vergisst, dass er ein Königssohn ist,“ lese ich die Worte von ihm: „Ach könnte ich doch den größten Zaddik so lieben, wie Gott den größten Bösewicht liebt!“


Pfarrer Stefan Mai

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