Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir um so mehr Ehre...

Predigt zum 3. Sonntag im Jahreskreis (1 Kor 12, 12-27)

Im alten Rom kam es eines Tages zum großen Streit zwischen den Plebejern und den Patriziern. Die Plebejer waren die einfachen und unteren Schichten der Stadt. Sie hatten kein Eigentum und waren landlos. Sie standen im Dienst der reichen Oberschicht der Patrizier, die Geld und Ackerland besaßen. Als die Patrizier ihr Versprechen zu einer Aufbesserung der Lebensverhältnisse des einfachen Volkes nicht gehalten hatten, kam es zum Eklat. Die Plebejer waren verärgert, gingen in Streik und wanderten aus Protest aus der Stadt Rom aus. Jetzt saßen die Reichen da mit ihrem immensen Grundbesitz. Aber niemand bestellte mehr ihre Felder.
In dieser prekären Lage baten sie Menenius Agrippa, hinaus ins Lager der Plebejer zu gehen, sie in ihrer Aggression zu besänftigen und sie wieder zur Rückkehr in die Stadt Rom zu bewegen. Menenius Agrippa stammte selbst aus der einfachen Schicht, hatte sich in die Oberschicht hochgearbeitet und war deswegen in den Reihen der einfachen Leute beliebt. Zudem war er ein begnadeter Redner. Und es wird erzählt: Menenius Agrippa ging hinaus zu der aufgebrachten Meute und erzählte ihr die Fabel von den Gliedern des Leibes:
Eines Tages rebellierten die Glieder des Leibes gegen den Magen. „Wir haben es satt, nur für den Magen zu arbeiten,“ argumentierten sie. „Dieser lässt sich nur füttern und versorgen, liegt selbst faul in der Mitte des Körpers und tut nichts als sich an den Genüssen zu laben.“ Und sie beschlossen, ihre Handlangerdienste für den Magen einzustellen. Die Hand bereitete keine Speisen mehr zu, führte sie nicht mehr zum Mund. Der Mund nahm nichts mehr zu sich. Die Zähne waren nicht mehr bereit, die Speisen magengerecht zu verkleinern. So wollten die Glieder des Körpers dem Magen einen Denkzettel verpassen und ihn buchstäblich aushungern. Doch siehe, plötzlich begannen sie selbst zu schwächeln und kamen an den Rand der Entkräftung. Und sie sahen plötzlich ein, dass der Magen keineswegs nur ein faules Schmarotzerorgan ist, sondern eine wichtige Funktion im Körper hat. Er nimmt nicht nur Dienste der anderen Glieder entgegen, sondern leistet auch selbst seinen Beitrag für die anderen Glieder des Körpers, er ernährt sie und verteilt über die Blutbahnen neue Kraft. Und Menenius entfaltete von diesem Gleichnis aus die Bedeutung der einzelnen Volksschichten füreinander. Das Volk sah ein, dass es zwischen ihm und den Patriziern ähnlich verhält. Durch dieses Leibgleichnis ließ es sich umstimmen, die Gemüter besänftigten sich und die Plebejer kehrten wieder in die Stadt Rom zurück und nahmen ihre Dienste für die Patrizier wieder auf.
Diese raffinierte Fabel von Menenius Agrippa war in der antiken Welt sehr bekannt. Und sie zementierte die Vormachtsstellung der Oberschicht, den Status quo der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Auch der Apostel Paulus kannte sie. Aber haben Sie bemerkt, dass er diese römische Fabel revolutionär neu erzählt? Nichts von der Vormachtsstellung eines besonderen Gliedes! Nichts von einer Abstufung der Bedeutung der einzelnen Glieder! Nichts von einer Rechtfertigung, dass es reiche und arme Schichten, dass es führende Köpfe und Lakaien, dass es ganz wichtige Persönlichkeiten und die Masse der Leute, die du vergessen kannst, gibt. Im Vorfeld seines Leibgleichnisses macht er schon alles klar: „Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie, und alle wurden wir mit einem Geist getränkt.“ (1 Kor 12,13). Und dann stellt er im Gegensatz zur Agrippa-Fabel, die die Bedeutung der führenden Schicht besonders herausstreicht, buchstäblich auf den Kopf: „Gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir um so mehr Ehre und unseren weniger anständigen Gliedern begegnen wir mit mehr Anstand, während die anständigen das nicht nötig haben.“ (1 Kor 12,23f) Merken wir, wie weit wir in unserer Gesellschaft, aber auch in unseren christlichen Gemeinden von diesen paulinischen Ideen weg sind?

Gerade weil so wenig von diesen Gedanken von der Gleichwertigkeit der Glieder in unseren Gemeinden lebt, ist für mich der Weihrauch-Ritus am Ende der Gabenbereitung ein ausdruckstarkes Zeichen. Da stehen alle auf, Reiche und Arme, Erfolgreiche und solche, die sich schwer tun, Alt und Jung, Männer und Frauen. Und allen diesen verschieden Gliedern der Gemeinde, die Paulus als Leib Christi bezeichnet, wird als Zeichen der Ehrfurcht der Weihrauch gespendet. Für mich ist dieser Ritus die stetige Erinnerung an solche Spitzensätze aus der heutigen Lesung: „Ihr seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist Glied an ihm.“ Und besonders geht mir dieser Weihrauchritus in der Begräbnisliturgie nah, wenn ich vor dem Sarg eines Menschen stehe, der im Leben zu den sogenannten Loosern gehörte und ich ihm noch einmal dieses Ehrenzeichen zukommen lassen darf: „Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir um so mehr Ehre.“


Pfarrer Stefan Mai

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