Auf dem Weg zur Selbsterkenntnis

Taufe Jesu 2007 (Lk 3,15f.21f.)

Einleitung

Das Kirchenjahr führt wie in einem Zei6traffer den Prozess der Selbstwerden Jesu vor Augen: An Weihnachten sehen wir die Geburt eines kleinen Kindes, das auf seine Mutter schaut. 8 Tage später will der Zwölfjährige schon aus der behüteten Familienidylle ausbrechen. Und heute am Tag der Taufe, mit dem die Weihnachtszeit endet, stößt Jesus zu einer neuen Selbsterkenntnis durch.

Predigt

Was ist das allererste Ereignis aus Ihrem Leben, an das Sie sich erinnern können? Manche behaupten, die Szene, die ihnen einfällt, war für sie ein Schlüsselerlebnis – so wie der große Dichter Jean Paul. Er schildert diese Szene so:
„Nie vergess’ ich die noch keinem Menschen erzählte Erscheinung in mir, wo ich bei der Geburt meines Selbstbewussteins stand, von der ich Ort und Zeit anzugeben weiß. An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Gesicht ‚ich bin ein Ich’ wie ein Blitzstrahl vom Himmel vor mich fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: Da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig.“
Welcher Wachstumssprung, wenn ein Kind sich dessen bewusst wird, dass es „Ich“ sagen kann und ein Ich ist. Das ist die Geburt des Selbstbewusstseins. Davor sehen Kinder immer nur die anderen: das Gesicht der Mutter, des Vaters, der Geschwister. Und von sich selbst redet das Kleinkind zuerst immer in der dritten Person. „Anna war brav.“ „Jonas hat Hunger.“ Welch ein Wachstumssprung, wenn Anna und Jonas „ich“ sagen.
Jean Paul hat diesen Augenblick nie vergessen und er beschreibt ihn in den Bildern der biblischen Taufszene. Die Evangelisten haben in der Taufe Jesu das Schlüsselerlebnis zu seiner echten Selbsterkenntnis dargestellt. Ihm ist bewusst geworden, wer er ist und worin sein Auftrag besteht. Ab diesem Tag beginnt er seine Mission.
Liebe Leser, der Tag der Taufe Jesu will Menschen zum Nachdenken bringen: Wer bist du und was ist dein eigentlicher Auftrag im Leben? Nimmst du ihn an und wie erfüllst du ihn?


Pfarrer Stefan Mai

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