Auf der Reise nach Jerusalem oder: Im Nachtzug nach Lissabon

Dreikönig 2007

Keiner weiß, warum die Magier aufgebrochen sind. War es Überdruss Intellektueller an einem eintönigen Leben? War es pure Abenteuerlust? War es religiöse Suche? Wir wissen es nicht. Wir wissen auch nicht, wie das Umfeld auf diesen Ausbruch reagiert hat. Religiöse Spinner! Unverantwortlich! Ihre Familien daheim einfach sitzen zu lassen! Oder: Die können sich so etwas ja leisten. Wir wissen es nicht. Wir wissen nur: Sie brechen auf. Sind getrieben von einer Idee. Sie suchen etwas, was sie so in ihrem Leben bisher noch nicht entdeckt haben. Und sie lassen sich von nichts und keinem davon abhalten. Wenn sie nicht mehr weiterwissen, interviewen sie Einheimische, bis sie schließlich immer mehr in die Nähe des Gesuchten kommen – und ihn von Angesicht zu Angesicht sehen. Sie gehen vor ihm in die Knie, übergeben ihre Geschenke und, so heißt es, kehren anders zurück.
Keiner weiß, wie sie daheim angekommen sind, wie es weitergegangen ist. Ob sie glücklicher waren – oder als Spinner abgestempelt wurden. Wir wissen es nicht.
Aber eines wissen wir: Diese Spinner gibt es bis heute. Sonst würden zurzeit nicht so viele Bücher erscheinen, in denen Menschen auf die Reise gehen und bei dieser Reise sich selbst auf die Spur kommen möchten. Eines dieser Bücher feiert zurzeit einen großen Erfolg und steht auf den Bestsellerlisten ganz oben. Es heißt „Nachtzug nach Lissabon“.
Eines Morgens begegnet dem Lateinlehrer Raimund Gregorius auf seinem Weg zur Schule eine lebensmüde Frau. Im strömenden Regen steht sie mitten auf der Berner Kirchenfeldbrücke und zerknüllt einen Brief. Als sie über das Geländer klettern will, hält Gregorius sie vom Sprung ab. „Was ist ihre Muttersprache?“, fragt er. „Portugues“.

Die Melodie dieses einen Wortes weckt eine seltsame Sehnsucht in Gregorius. Er, der korrekte Altphilologe, wegen seines immensen Wissens und Pflichtbewusstseins „Mundus“ genannt, verlässt kurz darauf seine Schüler mitten im Unterricht.
In einem Antiquariat entdeckt er das Buch eines portugiesischen Autors namens Prado. Ein schmaler Band voller Gedanken und Fragen: „Wenn es so ist“, steht dort, „dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist – was geschieht mit dem Rest?“
Noch in der Nacht übersetzt er das erste Kapitel mit Hilfe eines Lexikons. Um 4 Uhr Morgens sitzt er reisefertig in seinem Sessel, und als es hell wird, bricht er auf und steigt in den Nachtzug nach Lissabon. Kaum dort angekommen, macht er sich auf die Suche nach den Spuren des inzwischen verstorbenen Schriftstellers. In zahlreichen Gesprächen mit Freunden und Verwandten des Toten, die er ausfindig macht, versucht Gregorius dessen bewegtes Leben nachzuempfinden. Je mehr er dem gesuchten Schriftsteller auf die Spur kommt, desto mehr entdeckt der scheue Lateinlehrer an sich selbst neue Seiten. Und er geht regelrecht auf einen Erkundigungstrip nach sich selbst. Er legt sich ein neues Outfit zu: eine knallrote Brille. Und er, der immer wegen seines alten Anzugs gehänselt wurde, geht plötzlich in eine Boutique und kauft sich den letzten Schrei der Mode. Eine ihm bis dahin unbekannte Neugier auf Menschen und eine starke Sehnsucht nach Lebensintensität treibt ihn förmlich durch fünf aufregende Wochen in Lissabon.
Nach fünf Wochen kehrt Gregorius zurück nach Bern. Allerdings kennt er sich mit sich selbst nicht mehr aus. Er fühlt krank. Aber weder er selbst noch der Leser wissen, ob das besorgniserregend ist oder ob das eine neue Geburtsstunde bedeutet.
Liebe Zuhörer, für mich ist dieser gefeierte Roman eine moderne Dreikönigsgeschichte. Der neue Roman und die alte Geschichte wollen doch nur eines: den Leser zu einer Reise zu sich selbst mitnehmen – und im Spiegel einer anderen Figur sich selbst erkennen lassen.
Hand aufs Herz: Wer von Ihnen hat nicht schon einmal davon geträumt, einfach auszubrechen aus seinem Alltag, wegzulaufen, alles hinter sich zu lassen – und sich selbst und das Leben neu zu entdecken?


Pfarrer Stefan Mai

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