Blut ist dicker als Wasser

Fest der heiligen Familie 2006

Erschreckend für Schweinfurt: die demographische Bestandsaufnahme. Ohne die russlanddeutschen und türkischen Familien wären wir praktisch kinderlos, wären wir schon seit Jahren ein großes Altersheim. Wo hört man auf den Spielplätzen Kinder, die noch Schweinfurterisch schreien? In ganzen Wohnvierteln kein einziges Kind mehr. Gäbe es keine Autos wäre dort Friedhofsstille. 50,4 Prozent sind Singlehaushalte in Schweinfurt, meist wohnen darin alte Leute. Schweinfurt gehört zu den Städten mit den meisten alten Menschen in Deutschland.
Vor kurzen hat Frank Schirrmacher, der Herausgeber der FAZ, mit seinem neuesten Buch „Minimum“ die Deutschen aufgeschreckt. Er verheißt der deutschen Gesellschaft nichts Gutes. Er meint: Sie investiert falsch. Sie investiert in Rücklagen, in Versicherungen, in Vorräte und Geld – aber nicht in Kinder. Er prophezeit: In den kommenden Jahren wird sich unsere Lebensweise grundlegend verändern. Die wenigen Kinder werden in ihrer eigenen Generation wenige oder gar keine direkten Verwandten mehr haben. Die Familie wird zur Ausnahmeerscheinung. Mehr und mehr werden wir auf uns selbst gestellt sein. Doch allein können wir nicht überleben.
Schirrmacher behauptet: Blut ist dicker als Wasser. Und deswegen werden die kinderarmen Deutschen kaum lösbare Probleme bekommen. In lebensbedrohenden Krisen können nur Menschen überleben, die in große Familienverbände eingebunden sind. Alleinkämpfer, mögen sie noch so stark und tüchtig sein, haben keine Chance.
Und diese provokative These weist Schirrmachen an verschiedenen Beispielen der Geschichte auf. Das beeindruckendste unter ihnen ist das Drama vom Donnerpass:
Es ist Ende November 1846. 81 Menschen ziehen in den USA durch die Sierra Nevada gen Westen und suchen eine neue Heimat.
Unter den 81 Menschen befinden sich mehrere Großfamilien mit Tanten und Onkels, Cousins und Cousinen, Müttern, Vätern, Kindern, Enkeln und Großeltern. Außerdem Junggesellen und Einzelgänger. „Auffallend ist die hohe Zahl allein reisender Männer. Es sind insgesamt 15. Alle zwischen 20 und 40 Jahren alt. Sie sind stark, selbstbewusst und vertraut mit den Gefahren des Wilden Westens“ (12).
Plötzlich beginnt es zu schneien. In der Sierra Nevada, weit entfernt von jeglicher menschlicher Behausung, bleiben sie im Schneesturm stecken. Mit ihren Planwagen kommen sie nicht mehr weiter. Der Schnee blockiert den Weg nach vorn und auch den Weg zurück. Ein Monate langer Überlebenskampf beginnt.
Und wer überlebte? Nicht die 15 Singles im besten Alter mit Risikobereitschaft und Draufgängergeist. Von ihnen überlebten nur 3. Nein, es waren merkwürdigerweise die Alten, Kinder und Frauen der Großfamilien. Je größer die Familie, in der eine Person reiste, desto länger überlebte diese Person. „Familie Graves bestand aus zwölf Personen, und es kamen acht durch; die Breens waren zu neunt, und alle überlebten. Das sagt nichts aus über Moral oder Charakter der Einzelgänger oder der unterschiedlichen Familien. Es war viel mehr als das. Es war ein Gesetz“ (17). Es war das Überlebensgesetz der Großfamilie: Blut ist dicker als Wasser.
Liebe Leser, dem Buch von Schirrmacher ist heftig widersprochen worden. Aber an den Daten ist nichts zu rütteln. Die beste Lebensversicherung sind Großfamilien, die zusammenhalten. Sie lassen Blutsverwandte nicht so schnell sitzen.
Ich weiß: In der modernen Gesellschaft können wir die Großfamilie im traditionellen Sinn nicht einfach wiederbeleben. Aber wir können von der Großfamilie lernen, dass ihre Überlebensgesetze das wichtigste Kapital sind: das Einüben in soziales Verhalten.
Wer alles nur für sich behalten will, der bekommt niemals Freunde. Dagegen: Wer freizügig gibt und teilt, der bekommt dreifach zurück.
Wer sich anderen gegenüber verschließt, der bleibt allein sitzen. Dagegen: Wer auf andere zugeht, wer auch manche schwierigen Hürden im Miteinander nicht scheut, der darf mit Entgegenkommen rechnen.
Wer nichts beiträgt zum sozialen Miteinander, der bekommt es zu spüren. Dagegen: Wer für andere etwas tut, wird auch von anderen entlastet.
Wer diese sozialen Muster als Kind gelernt und erfahren hat, in dem wächst das Vertrauen: Wer den anderen nicht verlässt, der ist nicht verlassen. Wer anderen die Hand gereicht hat, der wird selber gehalten.

Alle Zitate stammen aus: F. SCHIRRMACHER, Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft, München 22006.


Pfarrer Stefan Mai

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