Seine Seele darf man nicht verkaufen

Stefanustag 2006 (Mt 10,28–33)

Die Steinigung des Stefanus ist der erste Märtyrerbericht der Kirche. Wie sich der sterbende Stefanus ein Beispiel nimmt am sterbenden Jesus, so sollte der sterbende Stefanus ein Beispiel für die Christen sein. Er sollte sie ermutigen, in Treue im Glauben festzustehen, auch wenn es gefährlich für sie wird und sie mit verlockenden Angeboten abgeworben werden sollen.
Ich weiß, die Christenverfolgungen haben wir lange hinter uns. In unseren Breiten gibt es keine Martyrien mehr. Wer hat wegen seines Glaubens schon noch etwas zu verlieren? Kein Wunder, dass ein britisches Lesezeichen ironisch fragen kann: Angenommen, du würdest verhaftet, weil du ein Christ bist – gäbe es genügend Beweise, dich zu überführen?
Der britische Humor bringt es haargenau auf den Punkt, worin heute die Gefahr besteht: so aalglatt werden, sich weltanschaulich in nichts mehr unterscheiden, so politisch korrekt und gesellschaftlich angepasst sich verhalten, dass man am Ende seine Konturen als Christ verloren hat. Früher hätte man gesagt: Da hat einer seine Seele verkauft. Wegen ein paar lumpigen Vorteilen. Wegen der Angst, nicht mehr „in“ zu sein. Wegen der Scham, zu den „Altbackenen“ zu gehören.
In meinen Augen ist das ein schleichender Prozess. Und wir werden mitgerissen, ohne es zu merken. Darum ist es gut, sich diese Gefährdung immer wieder vor Augen zu stellen. Genau das tut der Stefanustag. Da wird von einem erzählt, der seine Seele nicht verkauft, der sich nicht zur Anpassung verleiten lässt.
Und es gibt sie noch immer: solche Menschen, die nicht bereit sind, ihre Seele zu verkaufen. Ihre Zeugnisse können wir uns gar nicht oft genug in Erinnerung rufen, um unsere eigene Standfestigkeit zu stärken und unsere Aufrichtigkeit zu schulen.

Von zweien aus unserer Zeit möchte ich Ihnen erzählen.
Erstes Beispiel. Kurz vor Kriegsende. Im Widerstand gegen das Hitler-Regime legten die beiden Studenten Hans und Sophie Scholl am 18. Februar 1943 in den Gängen der Universität München 1.500 Flugblätter aus. Einen Teil davon ließ Sophie aus dem 2. Stock in den Lichthof des Gebäudes hinabflattern. Ihre Gruppe, die „Weiße Rose“, rief darin zum passiven Widerstand auf und forderte die Erneuerung Deutschlands im Zeichen der Grundrechte. Der Hausmeister beobachtete sie dabei. Hans und Sophie wurden verhaftet und zum Tode verurteilt.
Bei einem der Verhöre wurde Sophie gefragt: „Fräulein Scholl, wenn sie das alles bedacht hätten, so hätten sie sich doch nie zu derartigen Handlungen hinreißen lassen.“ Sie antwortete: „Sie täuschen sich, ich würde alles noch einmal genauso machen, denn nicht ich, sondern Sie haben die falsche Weltanschauung.“ Am 22. Februar 1943 wurde sie hingerichtet.
Die letzten Worte ihrer Mutter an Sophie vor ihrer Hinrichtung waren: „Gelt, Sophie: Jesus“. Ernst, fest und fast befehlend gab Sophie zurück: „Gelt, Mutter, auch für Dich.“ Dann ging sie, frei furchtlos und gelassen in den Tod.
Ein zweites Beispiel. Eine Begebenheit vor einer Woche. Ich kam ans Bett eines schwerkranken Russlanddeutschen. Seine Frau und Tochter waren bei ihm und berichteten mir erschüttert, dass der Kranke erst jetzt Dinge erzähle, von denen sie bisher überhaupt nichts wussten: von seinen furchtbaren Erlebnissen in der Verfolgungszeit unter dem kommunistischen Sowjetsystem. Der Kranke, der erschöpft auf seinem Bett lag, raffte plötzlich alle Kraft zusammen, seine müden Augen gewannen Glanz und schwer verstehbar brachte er die Worte heraus: „Man darf seine Seele nicht verkaufen. Ich erkenne jeden, der seine Seele verkauft. Ich hab’ sie nicht verkauft.“ Und er drehte mir seinen Nackenmuskel zu und sagte: „Sehen Sie, da haben sie mir das Fleisch herausgerissen. Aber ich habe meine Seele nicht verkauft.“


Pfarrer Stefan Mai

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