Die Macht eines Wortes

Weihnachtsfeiertag 2006

Er ist erst 27 Jahre alt, aber sein Leben ist im Grunde schon zerstört. Denn in weniger als zwei Jahren hat er seine ganze Familie verloren. Ich spreche von Giuseppe Verdi, dem großen italienischen Komponisten. 1813 wurde er in ärmlichen Verhältnissen geboren. Seine Eltern besaßen einen Kramladen mit Dorfschenke. Die vorbeiziehenden Musiker beeindruckten Giuseppe und er fing an, mit ihnen zu musizieren. Die Eltern reagierten. Der Vater kaufte ihm ein altes Klavier. Der junge Verdi begann zu komponieren. Mit 16 war er ein ausgebildeter Musiker. Er wurde gefördert, ging nach Mailand. Fast 23-jährig geht er zurück in seine Heimat, wird Musikdirektor und heiratet Margherita. Bis dahin war alles gut.
Sie haben zwei Kinder zusammen, aber sie haben kein Glück. Was dann geschah, schreibt Verdi in sein Tagebuch: „Über mich brachen die furchtbarsten Schicksalsschläge herein. Im April wurde mein kleiner Junge krank. Kein Arzt konnte die Ursache seines Leidens finden. Und langsam starb das Kind in den Armen seiner Mutter. Einige Tage später erkrankte auch mein Töchterchen. Und auch dies Kind starb uns. Allein, es war noch nicht genug. In den ersten Julitagen wurde meine Frau von einer schweren Hirnhautentzündung befallen. Und am 18. Juni 1840 trug man den dritten Sarg aus meiner Wohnung.“
Verdi geriet durch den Verlust seiner Familie in eine tiefe Depression. Er konnte kaum mehr arbeiten. Seine Kompositionen sind mittelmäßig, manche einfach schlecht. Er schleppt sich durchs Leben.
Da gibt ihm jemand einen neuen Auftrag. Es ist der Text für eine neue Oper. „Ich rollte das Ding zusammen“, schreibt Verdi in seinem Tagebuch, „und begab mich auf den Heimweg. Auf der Straße befiel mich eine abgrundtiefe Traurigkeit, weine Todesbeklemmung, die mir das Herz würgte.“

Zu Hause angekommen wirft er das Heft wütend auf den Tisch, aber plötzlich bleibt sein Blick hängen: Das Heft hatte sich geöffnet –und er liest den Satz: „Flieg, Gedanke, auf goldenen Flügeln … Erzähl uns von vergangener Zeit, die uns die Kraft verleiht, das Leid zu erdulden …“
Von diesem einen Wort wird Verdi wie vom Blitz getroffen. Auf einmal werden ihm Kopf und Herz wieder frei. Die Worte sind wie eine Explosion – und er kann endlich heraus aus seinem Trauern, aus seinem Kreisen um sich selbst. „Flieg, Gedanke, auf goldenen Flügeln …“ Verdis Gedanken fangen an zu fliegen, eine Idee nach der anderen kommt ihm in den Sinn – und er ist wieder fähig zu arbeiten und schreibt eine seiner berühmtesten Opern.
Liebe Zuhörer, so viel kann ein Wort im Leben bewirken. Völlig unverhofft. Einfach geschenkt. Und das Leben wird anders, gewinnt wieder Boden unter den Füßen.
Ich glaube, auf dem Hintergrund der Lebensgeschichte von Verdi hören wir den komplizierten Johannesprolog anders. Wir spüren, dass er viel mehr als schöngeistige Philosophie. Er spricht von einer Macht, die ins Leben einbricht und Dunkelheit vertreiben kann. Es sind oft Worte, die man gar nicht wahrhaben will; die man wie Verdi wegschmeißen will – und die dann doch zum Lebensretter werden können. Das Johannesevangelium erzählt davon: Das Wort, das Jesus verkörpert, kommt zu den Menschen. Viele nehmen es nicht auf und wenden sich ab. Aber für die, denen aufgeht, was hinter dem Wort steckt, für die wird es zum Licht und zum Lebensretter.

Inszenierung

Predigt vor dem Evangelium
nach der Predigt:
Prozession mit dem Evangelienbuch
dabei gesungen: „Dein Wort ist Licht und Wahrheit ...“ (GL 687)
Verlesung des Evangeliums Joh 1
Prozession mit dem Evangeliar und Weihrauchbegleitung durch die Kirche
dabei wird gesungen: „Morgenstern der finstern Nacht“ (GL 555,1.4.6)


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de