Wenn ich zwei Flügel hätt’

Predigt zum vierten Adventssonntag 2006 (Lk 1,39–45)

Melodie „Es waren zwei Königskinder“ wird eingespielt


Sie kennen dieses Lied. „Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb. Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief.“ Und im melancholischen Unterton erzählt das Lied klagend weiter, wie die Freundin am Ufer drei Kerzen aufstellt und ihren Freund bittet, bei Nacht übers Wasser zu ihr zu schwimmen. Aber die falsche Nonne bläst die Kerzen aus. Und der Königssohn ertrinkt. Und das Lied endet mit dem Bild: Ein Fischer birgt den toten Jüngling aus dem Wasser, und die Königstochter hält den toten Königssohn im Arm.
In wie vielen Volksliedern wird dieser Traum vom Zueinanderkommen besungen! Da wünschen sich Menschen Flügel, um den unüberwindbaren Abstand zu überwinden. „Wenn ich ein Vöglein wär’ und auch zwei Flügel hätt’, flög’ ich zu dir.“ Und wie oft wird dabei vom Scheitern erzählt: „Weil es aber nicht sein kann, bleib ich allhier.“
Ja, die Flügel der Engel in der Kunst sind schon immer Bilder für diese Sehnsucht nach gelungener Kommunikation und Mobilität, nach Gräben-Überwinden und nach Zusammenkommen. Ja, sie sind Bilder dafür, dass sogar die eigentlich nicht überwindbare Grenze zwischen dem Geheimnis „Gott“ und dem Menschen überbrückt werden kann.. Das bringen alle Verkündigungsengel der Bibel zum Ausdruck. Das ist das Thema der bekannten Erzählung vom Besuch des Engels Gabriel bei Maria. Dieses Geschehen beflügelt Maria. Sie geht übers Gebirge, überwindet Abstand und Höhe. Und als Maria in das Haus der Elisabeth eintritt und von ihr empfangen wird, haben die beiden sofort eine gemeinsame Wellenlänge. Fast wortloses Verstehen. Und in der Begegnung nehmen die beiden Kinder in ihrem Bauch ebenfalls fröhlichen Kontakt zueinander auf. In diesem Bild hat sich anschaulich die Erfahrung niedergeschlagen, dass echte Begegnung nicht aus dem Kopf, sondern aus dem Bauch heraus kommt.
Bei einer gelungenen Begegnung springt der Funke vom Bauch aus über, und durch die Begegnung kommt das Innerste von Menschen in Bewegung.
Welch ein Glück! Wo Menschen sich so begegnen, das ist ein Stück Himmel auf Erden. Da werden Menschen füreinander zu Engeln. Da beginnen sie leicht zu werden. Das beflügelt. Und das tanzen uns die beiden Engel von Paul Schäfer vor, die ihren Bauch aufeinander zustrecken.


Pfarrer Stefan Mai

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