Der Trost der Tränen

Rorate

Ich glaube nicht, dass Sie erraten würden, welche Predigten ich von meinen eigenen Predigten für die besten halte. Für mich sind es die Predigten, bei denen mir beim Formulieren am Schreibtisch die Tränen kamen. Denn in diesen Momenten spüre ich: Dieses Thema bewegt dich zutiefst, da gibst du etwas von dir her, was dir am Herzen liegt, da fließt aus dir Lebenswasser heraus.

„Lehr uns weinen, das Lächeln wird uns täglich aufgeklebt ... Wie kommen wir den langen Weg vom Achselzucken zu den Tränen? ... Gib mir die Gabe der Tränen, Gott. Gib mir das Wasser des Lebens ...“
Das sind Gebetssätze der verstorbenen Theologin Dorothee Sölle, die immer wieder auf die „Gabe der Tränen“ in einer sozial erkalteten und von einer Art Zuschauermentalität geprägten Zeit aufmerksam machen wollte.

Mir scheint, in keiner Zeit des Jahres kommen Menschen so häufig die Tränen wie im Advent oder an Weihnachten. Manchmal sind es Tränen der Erinnerung an vergangene Zeiten oder Menschen, die nicht mehr da sind. Manchmal sind es Tränen des Schmerzes darüber, dass Menschen voneinander getrennt sind, dass Beziehungen nicht mehr klappen oder in die Brüche gegangen sind. Tränen steigen aber auch hoch, wenn eine besondere Atmosphäre, ein gutes Wort oder ein Geschenk anrührt. Es gibt die Tränen der Freude und des Berührtseins von der Schönheit adventlicher Glücksmomente. All diese Momente und Situationen zeugen davon, dass das menschliche Herz nicht aus Stein ist.
„Lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit“ - so rät ein modernes Lied. Und nochmals Dorothee Sölle: „Gib mir die Gabe der Tränen, Gott. Gib mir das Wasser des Lebens.“


Pfarrer Stefan Mai

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