Johannes mit Flügeln

Predigt zum 3.Adventssonntag 2006 (Lk 3,10-18)

Ehrfurchtgebietend und mahnend steht er vor dem Betrachter. Seine rechte Hand erhebt er warnend, in der linken hält er eine Schriftrolle mit den Worten: „Eine Stimme ruft in der Wüste. Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen!“ Mit nackten Füßen steht er fest auf der Erde, der bärtige Mann, bekleidet mit einem Tierfell und einem roten Stoffmantel. Und mit klaren, eindringlichen Augen schaut er uns an. So stellen die orthodoxen Ikonenmaler seit dem 13. Jh. Johannes den Täufer oft dar. Und das besondere: Sie geben diesem rauen Wüstengesellen zwei Engelsflügel. Wie eine mächtige Engelserschei-nung mit einer wichtigen und auffordernden Botschaft bringen sie ihn ins Bild. Die Ikonenmaler unterstreichen mit den Flügeln: Dieser Johannes ist als Bote Gottes unterwegs. Im Auftrag Gottes ist er der unbequeme Mahner in der Wüste.

Was im ersten Moment als sonderbar erscheint, der Vorläufer mit Flügeln, verliert seine Fremdheit, wenn man weiß, dass der Engel Gottes in der Bibel oft als Warner und Mahner auftritt. Mit dem Schwert steht er vor Bileam und droht ihm wegen seiner Sturheit. Den Eingang des Gartens Eden lässt Gott durch die Keruben mit dem flammenden Schwert bewachen, damit der Mensch es nicht noch einmal wagt, sich als Gott aufzuspielen. In Ägypten schlägt der Engel Gottes sogar kräftig drein und im Buch der Offenbarung gießen die Posaunenengel die Zornesschalen aus. In dieser Linie steht für die Ikonenmaler Johannes der Täufer. Er konfrontiert die Menschen mit sich selbst. Sein Mahnungen beziehen sich auf die konkreten Menschen, die vor ihm stehen. Er redet ihnen kräftig ins Gewissen. Seine Antworten scheinen jeweils genau die Schattenseiten zu treffen, die mit einer bestimmten Berufsrolle verbunden sind. Den Leuten am Jordan rief er schon zu: „Jede Schlucht soll aufgefüllt werden, jeder Berg und Hügel sich senken!“ Das ist kein Aufruf zu Planierarbeiten, das ist ein Aufruf zur sozialen Gerechtigkeit, zum Überwinden der Kluft zwischen Oberschicht und Unterschicht. Und im heutigen Evangelium wird diese Forderung auf die verschiedenen Berufsgruppen hin entfaltet. Alle werden aufgefordert, eigenen Überfluss mit anderen zu teilen: „Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines dem der keines hat...“ Von den Zöllnern, den großen Geld- und Zinswucherern der damaligen Gesellschaft, verlangt er: „Verlangt nicht mehr als festgesetzt ist.“ Und den Soldaten schärft er ein, selbst im Dienst mit der Waffe niemanden zu misshandeln. Die Ikonenmaler malen Johannes gerade deswegen als Engel, weil er Menschen auf den blinden Fleck, auf ihre spezifische Gefährdung aufmerksam machte. Auch moderne Maler, wie z. B. ein Max Huizinger, greift zu solchen Motiven, wenn er von sich ein Selbstbildnis malt. Da schiebt ihn ein Engel auf dem Stuhl an einen Spiegel heran, so als wolle er ihn auffordern: Schau dir genau und ehrlich ins Gesicht, ohne gleich wieder alles zu entschuldigen und zu verschönern. Erkenne dich selbst!

Solche Menschen, die mir einen Spiegel vorhalten, die mich auf einen blinden Fleck hinweisen, die ehrliche Kritik an mir üben, die mir Mut machen, mich von Fehlhaltungen zu befreien, sind nicht immer bequem. Sie sind kantig, wie dieser Wüstenmann Johannes. Aber gerade dadurch – so die Ikonenmaler – werden sie dir zu echten Engeln, weil sie dir helfen möchten, dass dein Leben Frucht bringt und nicht wie Spreu verfliegt.


Pfarrer Stefan Mai

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