Das Geschenk der Dunkelheit

Rorate

„Noch nicht anzünden, jetzt noch nicht!“, sagte die Mutter. Gemeint war das elektrische Licht, das damals noch ein Kostenfaktor war und man jeden Pfennig sparen musste. Auch wenn es bereits so duster war, dass man weder Zeitung lesen, noch nähen und flicken konnte, wurde das Licht nicht angeknipst. Wer in der Stube war, saß dann da und legte die Hände in den Schoß. Kaum jemand sagte ein Wort. Ruhe breitete sich aus und legte sich wie ein warmes Tuch über Menschen und Dinge. Jeden Abend im Advent, diese selbstverständliche Zeremonie am Ausklang des Tages: Zu dunkel, um etwas tun zu können und zu früh, um Licht anzuzünden. Der Vater zog an der Pfeife und wir Kinder sahen zum Fenster hinaus, wie der Tag sichtbar zu Ende ging. Geschenkte, dichte Stille. Erst als es wirklich dunkel war, sagte die Mutter: „So jetzt ...“ und knipste die Lampe an.

So beschreibt Vreni Merz die Stimmung an den Adventsabenden und vermisst das Flair dieser geheimnisvollen, dämmrigen Abendstunden aus der Kinderzeit.

Advent bedeutet heute Highlight. Glitzerwelt, ausgeleuchtete Straßen, Helligkeit flutet die Stadt. Leuchtreklamen auf Straßen und Plätzen. Lichterlametta, Tausende von Glühbirnen und Neonbögen in Bäumen und Sträuchern, Blitzlichtgewitter hinter Fensterscheiben. Ist das nur Hang zur Romantik oder steckt vielleicht die Angst dahinter, in dämmrigen Stunden mit uns selbst konfrontiert zu werden?
Jeder, der sich bewusst der Dunkelheit aussetzt, weiß: Die Nacht versteckt uns den Blick auf die Dinge um uns herum, weil unser Blick ins Dunkel stößt. Automatisch wendet sich in der Dunkelheit der Blick mehr nach innen. Und mein inneres Auge wird wach und schaut auf mein Denken und Sehnen, auf meine Ängste und Hoffen und konfrontiert mich mit mir selbst.

„Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden“ - schrieb einmal der Dichter Rainer Maria Rilke.

Zu keiner Stunde denke ich so viel über mich, die Menschen, meine Arbeit und Gott nach als wenn ich ins Bett gehe. Und wie oft fliegen mir gute Gedanken zu, wenn es um mich herum still und dunkel ist und ich in die Nacht hinaushöre.


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de