Die Frage der Fragen

Predigt zum Gedächtnisgottesdienst für die Verstorbenen des Seniorenkreises am 23.11.2006

Sie kennen vielleicht die kleine Geschichte von Rabbi Sussja, äußerst kurz und doch voller Wucht. Vor dem Ende, so heißt es, sprach Rabbi Sussja: „In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: ´Warum bist du nicht Mose gewesen?` Man wird mich fragen: `Warum bist du nicht Sussja gewesen?`“

Nach dieser Geschichte wird im Moment des Todes, wenn wir Gott Aug’ in Aug’ gegenüberstehen, Gott uns nicht fragen, warum wir nicht unser Leben so gelebt haben wie die Großen unseres Glaubens. Er wird uns nicht fragen, was wir Großes zu Wege gebracht haben. Die entscheidende Frage wird lauten: Bin ich im Leben der oder die geworden, wie Gott mich gemeint hat. Jeder Mensch, so meint Rabbi Sussja, hat seinen Ursprung, auf Latein „origo“, in Gott und ist darum ein „Original“ aus Gottes Schöpferhand. Und diese Originalität zu entwickeln ist uns im Leben als Auftrag von Gott mitgegeben. Wie wir vor Gott einmal dastehen werden, hängt also entscheidend davon ab, ob es mir im Leben gelungen ist, ich selbst zu sein oder nicht. Ob ich gemäß meinen Möglichkeiten und Begrenzungen meine Originalität weiter entwickelt habe und mich dagegen wehre, als billige Kopie von so vielem, was man halt so tut, was man alles von mir erwartet, stirbt. Um Gott zu gefallen, brauche ich in meinem Leben nichts anderes werden als der Mensch, der ich als einzigartiger Gedanke Gottes schon bin.

Irgendwie habe ich den Eindruck, je älter wir Menschen werden, desto mehr meinen wir, die Suche nach Originalität sei doch die Sache der jungen Leute. Die können sich noch entwickeln, können sich noch verändern, können experimentieren und auch Dinge wagen. Im Alter dagegen ist vieles festgeschrieben, da kommt dieses Bemühen zu spät und da hat der Mensch auch nicht mehr den Elan dazu. Aber die Gegenfrage ist: Bietet nicht das Alter viel mehr Freiheiten als man glaubt. Dieses Bestreben, auch noch im Alter ein echtes Original zu werden, strahlt ein Gedicht aus, das mich sehr beeindruckt. Es lautet:

Wenn ich einst alt bin
trage ich Mohnrot
weil ich das Brennen nicht missen möchte
in meinen Gliedern
in meinem Herzen

Einen großen Hut
der weit auslädt
und das Gesicht anmutig verschattet

Ich werde stolz sein
wenn die Leute hinter mir tuscheln:
Da geht die verrückte Alte mit ihrem Hut

Vieles werde ich nicht mehr machen
Zuhören zum Beispiel
wenn ich nicht mag
oder bleiben wenn es mich langweilt
Nicht mehr fächeln
mit höflichen Floskeln
sondern sagen wie es mir ist

Vieles aber
will ich noch tun
Rutschbahn fahren mit meinem Enkel
rumpurzeln im Heu
und lachen dazu
Leute ansprechen
im Tram auf der Straße
die mir gefallen und fragen
wie geht´s

Zeit nehmen für einen Schwatz
im Blumenladen die Ansicht
der Gärtnerei kennen lernen
über Jahreszeiten und Sträuße

Reisen
ein Weingut suchen im Herzen der Toskana
weil mir das Etikett auf der Flasche gefiel
An die Nordsee fahren
weil ich Sehnsucht habe
nach grauen Stränden und frischem Wind
Was mir so einfällt
ein Nachtspaziergang
Düften folgen
und fliegen lassen Bänder im Wind

Unbekümmert und barfuß
Lauf ich ins Grab
(aus Elisabeth Schlumpf, wenn ich einst alt bin, trage ich Mohnrot)


Über solche Originale wird Gott seine Freude haben!


Pfarrer Stefan Mai

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