Innocentia e memoria mortis

Ansprache zum Volkstrauertag 2006

Die BILD-Zeitung veröffentlichte am Mittwoch, 25. Okt. 2006, fünf Fotos, auf denen Bundeswehrsoldaten mit einem Totenschädel hantieren. Sie haben den Kopf auf den Scheinwerfer eines Geländewagens und auf einen gebogenen Metallbügel gespießt, mit dem Drahtzäune durchtrennt werden können, einen sogenannten cablecutter. Das widerlichste Foto zeigt einen Soldaten, der seinen entblößten Penis in die Nähe des Schädels hält. Die Fotos sind im Jahr 2003 bei einer Patrouillenfahrt in der Nähe der afghanischen Hauptstadt Kabul entstanden. Die Herkunft des Schädels sei ungeklärt, vermutlich stammt er aus einem Massengrab.
Wie kann es dazu kommen, dass Bundeswehrsoldaten in dieser Weise alle Regeln des Anstandes und der Humanität über Bord werfen? Ist das nur ein unreifer Jungenstreich, resultierend aus Langeweile und Perspektivelosigkeit von deutschen Soldaten oder handelt es sich um Demütigung von Opfern. Auf jeden Fall dürfte die Mission der deutschen Bundeswehr in Afghanistan nicht leichter werden.
Szenenwechsel. Auf einem mittelalterlichen Bild über dem Portal der Kartause von Pavia aus dem 15. Jh. ist auch eine Darstellung mit einem Totenschädel zu sehen. Ein Totenschädel zwischen zwei Puttos, knabenhaften Engeln. Der eine lehnt mit seinem rechten Ellenbogen direkt auf dem Schädel und schaut ungewöhnlich ernst. Der andere Putto, etwas älter schon, sitzt vor dem Schädel auf einem Stein, verbirgt sein Gesicht in den Händen und weint. Und deutlich ist als Rundschrift um das Medaillon zu lesen: innocentia e memoria mortis. Unschuld aus der Erinnerung an den Tod.
Die Kartäuser stellten sich mit diesem Bild ein Memento mori! – Mensch, gedenke, dass du sterben musst! – vor Augen. Von den Putten wollten sie lernen: Schau in diesem Totenkopf deinem eigenen Tod in die Augen, und du wirst in der Erinnerung an deinen eigenen Tod dein Leben verantwortungsvoll gestalten!
Innocentia e memoria mortis – das scheint mir auch der Sinn des Volkstrauertags zu sein, dessen Begehung immer weniger Freunde hat und dessen Sinnhaftigkeit immer mehr in Frage gestellt wird.
Die Botschaft dieses Tages ist für mich: Stell dir die vielen sinnlosen Tode vor Augen – und verhindere in deiner Lebenszeit, dass sich derartige Sinnlosigkeit wiederholt.
Stell dir das große Unrecht vor, das diesen Toten des Kriegs und des Terrors geschah – und trag das Deinige dazu bei, dass Du dich den Anfängen von Aggression und Volkshetze entgegenstellst.
Stell dir die Totenschädel der vielen vor, die sich gegen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit gestellt haben – und trag mit deinem Leben dazu bei, dass Wahrheit nicht verkehrt wird und dass du, auch wenn es schwierig wird und du dich gegen einen Mehrheit stellst, der Wahrheit eine Stimme verleihst.
Innocentia e memoria mortis – Unschuld aus Erinnerung des Todes. Ich lese zum Schluss aus unserer biblischen Tradition einige Verse aus Psalm 90, die aus der Erinnerung an den eigenen Tod verantwortungsvolles Leben gestalten helfen wollen:

Du, Gott, lässt die Menschen zurückkehren zum Staub und sprichst: Kommt wieder, ihr Menschen! Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht. Von Jahr zu Jahr säst du die Menschen aus; sie gleichen dem sprossenden Gras. Am Morgen grünt es und blüht. Am Abend wird es geschnitten und welkt. Unser Leben währt 70 Jahre, und wenn es hoch kommt sind es 80. Das Beste daran ist nur Mühsal und Beschwer. Rasch geht es vorbei und wir fliegen dahin.
Unsere Tage zu zählen lehre uns, Gott, dann gewinnen wir ein weises Herz.


Pfarrer Stefan Mai

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