Von der „Unterschicht“ lernen

Predigt zum 32. Sonntag im Jahreskreis

Seit Jahren pfeifen es die Spatzen von den Dächern: Die Schere zwischen Arm und Reich geht in unserer Gesellschaft immer weiter auseinander. Die Reichen werden immer reicher, ihre Kinder haben die besseren Bildungschancen. Sie können ihre Kinder am besten fördern, können viel leichter Kultur vermitteln. Durch die Berufskarrieren ihrer Eltern erleben Kinder: Etwas leisten lohnt sich finanziell. Durch viele Beziehungen haben die Kinder der oberen Schichten auch gute Berufschancen. Die einfachen Bevölkerungsschichten tun sich dagegen in unserem ausgebufften Wirtschaftssystem immer schwerer. Die Kinder dieser Schichten haben deutlich schlechtere Startchancen. Ihre Eltern erkennen oft nicht den Knackpunkt „Bildung“ in unserer Gesellschaft, haben dafür nicht den „Sensus“ und haben für gute und zusätzliche Förderungsmittel auch nicht das Geld. Die Kinder in diesen Familien erleben viel häufiger als in den oberen Schichten Arbeitslosigkeit ihrer Eltern, zielloses Herumhängen. In einem Gespräch von Dekanen mit Vertretern der Arbeitsagentur Schweinfurt in dieser Woche wurde mir klar: Alle jungen Menschen, denen keine Ausbildungsstelle vermittelt werden konnte, stammen aus dieser Schicht. Und allein 900.000 Menschen ernährt ihrer Hände Arbeit in Deutschland nicht mehr. Arm trotz Arbeit. Wegen äußerst mieser Bezahlung ihrer Arbeit mit den Händen sind sie trotzdem noch auf Hartz IV angewiesen. Und Sie brauchen nur einmal in Schweinfurt zu beobachten, wie die Schlangen von Menschen mit Bedürftigkeitsnachweis vor den Verkaufsstellen der „Schweinfurter Tafel“ immer länger werden.

Seit Jahren wissen wir es, die Schere zwischen Reich und Arm geht immer weiter auseinander. Die einfachen Bevölkerungsschichten haben weniger Chancen im Bildungssystem, im Gesundheitssystem, im Wirtschaftssystem. Aber erst vor wenigen Wochen ging ein Aufschrei durch die Politikerriegen, als die Friedrich Ebert-Stiftung ihre neue Milieustudie vorlegte und auf die Schicht der „abgehängten Prekären“ deutlich hinwies. Damit ist die Bevölkerungsschicht in unserer Gesellschaft gemeint, die in unserem System wenig Chancen hat, die mehr und mehr abgehängt wird. Viele Menschen geraten immer mehr in eine absturzgefährdete Situation, haben aber auch nicht mehr die Kraft sich aufzubäumen, ziehen sich immer mehr resigniert zurück und sterben im Abseits unserer Gesellschaft den finanziellen und sozialen Tod. Als Skandal wurde es dann in der Öffentlichkeit bezeichnet, als das Wort von der Schere zwischen „Oberschicht“ und „Unterschicht“ die Runde machte. Nicht die Wortwahl ist für mich ein Skandal, sondern das Faktum, das nicht zu leugnen ist, vor dem man lange die Augen geschlossen hat und das noch manchen Sprengstoff in unserer Gesellschaft nach sich ziehen wird.

Ich weiß, die Gesellschaft zur Zeit eines Profeten Elija und zur Zeit eines Jesus war nicht unsere Gesellschaft. Aber in einem Punkt gibt es sicherlich Parallelen: Die Schere zwischen Arm und Reich. Ein kleiner Teil der Gesellschaft stand auf der Sonnenseite des Lebens, der Großteil auf der Schattenseite. Das wird in den Erzählungen der Lesung und des Evangeliums sichtbar. Da geht es um zwei Frauen aus der Unterschicht, um Witwen, die damals ihr Dasein am Rand des Abgrunds fristeten. Aber die Bibel wendet gerade das Augenmerk auf diese Figuren und rückt sie ins Blickfeld. Sie bewundert die Witwe von Sarepta, die mit ihrem Sohn den finanziellen und sozialen Tod zu sterben droht, und die trotzdem noch bereit ist, zu geben, wo sie doch selbst nichts mehr hat. Und Jesus erteilt den Frommen und Reichen am Tempel geradezu eine Backenschelle, wie er voller Bewunderung die arme Witwe mit ihren lächerlichen zwei Münzen als Musterbeispiel einer vorbildlichen Lebenshaltung vor Augen stellt. Die Bibel stellt nie das Leben der Oberschicht in den Focus, sie ist parteiisch und verbirgt nie ihre Bewunderung für den schweren Überlebenskampf dieser Schicht und provoziert die Oberschicht, indem sie behauptet, gerade von diesen Menschen könnt ihr noch vieles lernen.

Ich bin überzeugt, in unserer Gesellschaft wird es erst zu einem neuen Wertedenken kommen, wenn die privilegierten Schichten bewusst den Blick von den Benachteiligten nicht abwenden, in ihrer Lebensstrategie keine Bedrohung für ihren Reichtum sehen und sich immer mehr von ihnen abschotten, sondern sich darüber wundern, wie Menschen oft trotz widriger Lebensumstände überhaupt noch leben können und menschlich bleiben. Diesen bewundernden Blick brachte der Dichter Gottfried Benn in seinem Gedicht „Menschen getroffen“ meisterhaft in Sprache:

...Ich habe Menschen getroffen, die
mit Eltern und vier Geschwister in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchenherde lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen –
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa,
die reine Stirn der Engel trugen.

Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muss gehen.


Pfarrer Stefan Mai

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