Milch und Honig

Predigt zum 31. Sonntag im Jahreskreis (Dtn 6,2–6)

Wie oft redet die Bibel vom Land, das von Milch und Honig überfließt. So stellen sich die Nomaden in der Wüste das Paradies vor: Was sie nur kärglich haben, das bisschen Milch von ihren Schafen und Ziegen zum Überleben und die Zufallsfunde von Bienennestern, das gibt es im Paradies in Hülle und Fülle. Milch, das ist ein Bild für Grundnahrung. Alle Menschen und Säugetiere wachsen damit auf. Honig, das ist das Bild für das Nicht-Alltägliche, für alles, was das Leben versüßt und schöner macht. Von so einem Land, das von Milch und Honig überfließt, träumen die Israeliten. Und dieses Land wird ihnen von Gott verheißen.
Der bekannte Psychoanalytiker Erich Fromm hat dieses Wortbild aufgegriffen und auf den Menschen übertragen. Er schreibt:

Die meisten Menschen sind fähig, Milch zu geben. Aber nur eine Minderzahl unter ihnen kann auch Honig spenden. Um Honig spenden zu können, muss die Mutter nicht nur eine gute Mutter sein, sie muss auch ein glücklicher Mensch sein – ein Ziel, das nur wenige erreichen.

Fromm kennt den Menschen gut. Er weiß, dass fast jeder Mensch Milch geben will. Er strengt sich in seinem Beruf an, will seinen Kindern ein guter Vater sein, will als Arzt für seine Kranken da sein, will als Pfarrer Impulse für das Gemeindeleben setzen, will als Lehrer Werte und Wissen an Kinder weitergeben. Aber damit ist er noch lange kein Mensch, der Honig spendet. Und das kann man auch nicht „machen“. Er mag sich noch so anstrengen, sich noch so aufopfern, noch so viel Zeit und Kraft aufwenden. Der Honig, von dem Erich Fromm spricht, lässt sich auch mit allergrößtem Bienenfleiß nicht machen. Er ist Geschenk.
Und das weiß doch jeder von uns. Es gibt diese Tage, da ist man mit sich und der Welt zufrieden, innerlich ganz aufgeräumt, optimistisch gestimmt – und man kann gar nichts dafür. Die Arbeit geht einem von der Hand, die Menschen sind alle so freundlich, die Sonne scheint so schön, es gibt einfach nichts Schöneres als das Leben. Und das wissen wir: Gerade in solchen Phasen haben wir Leuchtkraft, strahlen wir etwas aus, fühlen sich Menschen durch unsere Nähe beschenkt. Wir meinen, nichts Besonders zu machen, vermitteln aber viel mehr als wir uns bewusst sind. Das sind die Tage, an denen wir Honig spenden.
Meisterhaft hat dies der Dichter Arnfried Astel in zwei kurzen Versen auf den Punkt gebracht:

Hüpfend nach Hause ein Schulkind.
So eine Lehrerin möchte ich auch sein.


Dem Kind sieht man an, wie groß die Ausstrahlungskraft der Lehrerin gewesen sein muss. Welch ein Geschenk, als Mensch nicht nur Milch zu geben, sondern Honig spenden zu dürfen!


Pfarrer Stefan Mai

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