Haben Sie Freunde unter den Toten

Predigt zum Allerseelentag 2006

Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch führte in Jahren 1966–1971 ein Tagebuch. In diesem Tagebuch befindet sich ein „Fragebogen“, der sich auch dem Themenbereich des Sterbens und des Todes stellt. Eine der Fragen lautet: „Haben Sie Freunde unter den Toten?“ Eine seltsame Frage.
Was sollen Freunde unter den Toten? Freunde hat man doch unter den Lebenden. Ich weiß nicht hundertprozentig, was Max Frisch mit dieser Frage beabsichtigt. Aber ich glaube, dass die Beantwortung dieser Frage etwas mit dem Sterbenkönnen zu tun hat.
Schon die katholische Beerdigungs-Liturgie lenkt uns auf diese Spur. Bevor der Sarg zu Grabe getragen wird, wird der altkirchliche Gesang angestimmt: „Zum Paradies mögen Engel dich geleiten, die heiligen Märtyrer dich begrüßen und dich führen in die heilige Stadt Jerusalem.“ Was verbietet es uns, neben der Schar der Engel und Märtyrer auch die Schar unserer Freunde unter den Toten zu denken, die uns im Tod begrüßen und empfangen?
Einer, der sich ganz sicher war, Freunde unter den Toten zu haben, war der Münsteraner Philosoph Peter Wust (1884-1940). Im Jahr 1937 erkrankte er an Oberkieferkrebs, der dann auf den Kehlkopf übergriff. Dies bedeutete, dass der Universitätslehrer nicht mehr sprechen konnte und fürchterlichste Schmerzen zu erdulden hatte. In einem Brief an seinen Sohn schrieb Peter Wust in diesen Tagen folgende Zeilen:
Übrigens drängt alles in mir hinüber nach jenem fernen Land, wo ich meinen guten Vater wiederfinden werde und meine liebe Mutter und so manche anderen Menschen, die mir wertvoll sind. Ich habe Heimweh, ein brennendes Heimweh nach den Tiefen der Ewigkeit.

Ich erlebe es selbst immer wieder an Sterbebetten, wie hilfreich es ist, wenn Angehörige ihren Sterbenden sagen können: Wenn du dich jetzt auf den Weg machst, drüben wartet dein Mann, deine Frau auf dich, der Onkel Hans und dein alter Freund Leo.
Noch einmal: „Haben Sie Freunde unter den Toten?“
Freunde unter den Toten zu haben, ist so wichtig wie Freunde im Leben. Freunde im Leben lassen das Leben leichter leben und gelingen, Freunde unter den Toten das Sterben.


Pfarrer Stefan Mai

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