„Daily Soaps“ und „local heros“

Predigt zum Allerheiligenfest

Einleitung

Niemand hätte damit gerechnet: Vorbilder sind wieder „in“. In Jugendstudien gaben 1984 nur noch 19% der Befragten an, ein Vorbild zu haben. Im Jahr 1996 war es nur noch 16%. Und dann kam die Überraschung. In der Shell-Studie des Jahres 2000 geben plötzlich 29% der Jugendlichen, an ein Vorbild zu haben. Der Trend hält an und steigert sich sogar. In einer weiteren Jugendstudie beantworten überraschend 56% die Frage nach einem Vorbild mit „Ja“. Nachgefragt, ob auch Heilige ihnen Vorbild sind, antworten nur 2% der Jungen und 1 % der Mädchen mit „Ja“. Vorbilder sind wieder „in“. Aber Heilige sind megaout. Heilige – himmlische Langweiler, weit weg vom Leben heutiger Menschen?

Predigt

Abend für Abend verfolgen rund drei Millionen Menschen die Geschichten um Liebe, Leidenschaft und Intrigen der Kultsendung „Verbotene Liebe“. Über 2500 Folgen dieser Sendung wurden bereits ausgestrahlt. „Daily Soaps“, so nennt man diese Gattung von Fernsehsendungen: die tägliche Seifenoper. Medienforscher behaupten: Diese Sendungen sind deswegen so beliebt, weil sie auf der einen Seite so alltäglich sind, auf der anderen Seite die Alltäglichkeit in ein ganz besonderes Licht tauchen. Die Seifenopern sind deshalb so reizvoll, weil sie „voll das Leben“ widerspiegeln: Probleme im Kindergarten und in der Schule, Streit unter Kindern und in Familien, Geldsorgen und Neid, heimliche Liebe und enttäuschte Liebschaften, aber auch die Sorge füreinander und die Angst, einander zu verlieren, die Sehnsucht nach Versöhnung und die Schwierigkeit, mit Schuld umzugehen. Alle großen Lebensthemen haben in diesen „daily soaps“ ihren Platz. Viele schauen diese Sendungen deshalb so gern an, weil sie in Familien und Wohngemeinschaften spielen, in denen es um Gemeinschaftsleben und Liebesbeziehungen geht. Und weil sie hoffen, aus den alltäglichen Dramen im Fernsehen Weisheiten für ihr eigenes Leben zu gewinnen. Und dabei sind die Figuren der Soaps keine leuchtenden Vorbilder. Sondern sie werden gezeigt mit ihren Ecken und Kanten, ihrem Gelingen und Scheitern, ihren guten Seiten und schlechten Gewohnheiten. Kinder und Jugendliche suchen sich diejenigen Gestalten aus ihren Lieblingssendungen heraus, die sie in ihren Alltagserfahrungen gerade brauchen und die sich mit den gleichen Problemen herumschlagen wie sie selber.
Auch in der kirchlichen Liturgie gibt es so etwas wie ein „daily soap“. Jeden Tag betritt eine andere Figur die Bühne. Jeden Tag wird „voll das Leben“ gezeigt. Jeden Tag werden wir an einen anderen Ort der Welt geführt. Jeden Tag findet eine Zeitreise in ein anderes Jahrhundert statt. Aber komisch: Diese „daily soaps“ interessieren nur noch wenige, meistens ältere Mütter, die am Werktag morgens oder abends in den Gottesdienst kommen. Denn da ist von den Helden der Kirchen-Soaps die Rede. Ich meine die Heiligen, von denen jeder seinen eigenen Gedenktag hat. Leider haben sie ihre Attraktion verloren.
Und das hängt wahrscheinlich vor allem damit zusammen, wie sie im Laufe der Jahrhunderte von unserer Kirche präsentiert wurden. Sie stehen nicht nur räumlich in unseren Kirchen auf hohen Sockeln, sondern auch übertragen: Mit ihrem vorbildhaften Leben schweben sie hoch über unseren Köpfen, sie scheinen frei von Fehlern, unanfechtbar von Leidenschaften, selbstlos bis zum Letzten, fromm bis in die Knochen, kurz: heilig im Sinn von weltfremd. Aber diese Entrückung trifft das wirkliche Leben unserer Heiligen nicht. Ihr Leben ist gespickt mit Schwierigkeiten, mit Zweifeln, Versagen; ihr Leben ist aber auch voll von Träumen und Sehnsüchten, originellen Ideen und wagemutigen Entschlüssen. Sie können mutig anderen die Leviten lesen, aber auch über sich selbst lachen. Und vor allem: Sie schlagen sich mit den ganz banalen Problemen des Alltags herum, sie quälen sich mit den Sorgen ihrer Zeit und versuchen, Tag für Tag ihren Mann oder ihre Frau zu stehen. Und dabei hilft ihnen ihr Glaube. Deswegen nennen wir sie „heilig“.
Mir scheint, das Allerheiligenfest ist schon immer in der Kirche so etwas wie eine Kritik an der allzu entrückten Heiligenverehrung. Das Fest will auf die Alltagsheiligen hinweisen, auf alle, die sich Tag für Tag den Niederrungen des Alltags stellen – und denen der Glaube dabei Kraft gibt. Der Allerheiligentag möchte uns ermuntern, nach solchen Alltagsheiligen in unserer Umgebung Ausschau zu halten. „Local heroes“ sagen Jugendliche heute dazu.
Das könnte die Mutter eines Buben sein, die ihn ohne Vater großgezogen hat, arbeiten gehen und so vieles allein durchstehen muss – und die trotzdem das Bügeleisen aus der Hand legt, wenn sein Freund kommt, die sich hinsetzt und sich mit den beiden unterhält. Oder das könnte die Bäckereiverkäuferin sein, bei der die alte Frau täglich vorbeikommt, 50 Cent hinlegt und ihr Brötchen mitnimmt. Und die Verkäuferin bedient die alte Frau vornehm wie alle anderen Kunden und steckt ihr sogar manchmal noch etwas Süßes ins Tütchen.
Ich behaupte: „Daily soaps“ spielen mitten in unserem Leben. Wir müssen nur die Augen aufmachen. Dann werden wir sie entdecken, die Heiligen, die noch atmen.

Meditationstext nach der Kommunion
(evtl. mit Meditationsmusik unterlegt)

Die Heiligen sind ebenfalls Menschen
und keine Wundertiere,
sie wachsen gerade,
nicht krumm wie die Gurken,
kommen zur Welt zur rechten Zeit,
nicht zu früh und nicht zu spät,
Heilige sind sie,
weil sie sich nicht wie Heilige gebärden,
und sie treten von einem Fuß auf den anderen,
wenn sie frieren an den Haltestellen.
Manchmal schlafen sie
nur mit einem Auge,
sie glauben an eine Liebe,
die größer ist als die Gebote,
glauben, dass es Leiden gibt,
aber kein Unglück;
sie wollen lieber vor Gott knien
als sich vor den Menschen in den Staub werfen;
sie sind so gegenwärtig,
dass man sie nicht bemerkt,
fürchten die neuen Zeiten nicht,
die alles auf den Kopf stellen,
sie wollen nicht so süß gequält sein,
wie sie auf den Heiligenbildchen aussehen,
manchmal können sie nicht mehr beten,
beten aber immer.
Sie haben sympathische Fehler
und unsympathische Tugenden,
sie haben nichts
und verschenken darum,
sie sind so schwach,
dass sie Berge versetzen.

(Jan Twardowski)


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