Nun wird es Zeit zu danken

Predigtmeditation zum Erntedankfest 2006

1964 starb in Zürich der Schauspieler Ernst Ginsberg an einer schweren Krankheit. Stück für Stück wurde sein Körper gelähmt. Am Ende verlor der große Schauspieler sein Handwerkszeug, die Sprache. Doch sein Geist blieb unangetastet. Er war sich über den Ausgang seiner Krankheit im Klaren und versuchte sie aus seinem Glauben heraus anzunehmen. Als er noch diktieren konnte, verfasste er Prosa und Gedichte, die letzten Verse entstanden, als er sich nur noch mittels Tabellen zu verständigen vermochte. Eines dieser Gedichte, das er im Angesicht des Todes verfasste, trägt den Titel „Choral“. Die erste Zeile lautet: „Nun wird es Zeit zu danken“. Was Ernst Ginsberg am Ende seines Lebens zum Danken bringt, soll uns heute am Erntedankfest anregen, im Blick auf unser Leben unseren Dank auszudrücken:

Nun wird es Zeit zu danken
eh Herz und Auge bricht
für alle Gottesgaben
für Leben, Luft und Licht –

Zu danken für die Eltern,
die mir in dieser Welt
die blinden Kinderfüße
auf graden Weg gestellt –

Zu danken für die Freundschaft,
die mir zur Seite ging
und oft mit starken Armen
den Taumelnden umfing –

Zu danken für die Liebe,
die ich so oft verriet:
sie aber sang, die treue
das ew’ge Liebeslied –

Zu danken für den Sohn,
den die Liebe uns gebar:
er machte meinem Leben
kein einz’ges graues Haar –

Zu danken für die Enkel:
wie blüht das Leben fort!
Wie mir sei Gott euch gnädig
an jedem Lebensort –

Zu danken für die Freuden:
Wie war die Welt so schön
um staunend voll Entzücken
von Glück zu Glück zu gehen –

Zu danken für die Leiden:
die sühnten dunkle Schuld
und prüften Herz und Nieren
im Abgrund der Geduld –

Zu danken für die Tränen
des Lachens wie der Not:
die Not, die bittre Speise
das Lachen gut wie Brot –

Zu danken für die Gaben
der Kunst, der ich gehört
die mich seit Knabenjahren
besessen und betört –

Zu danken für die Vielen,
die meinen Sinn erfühlt
und meine Sprache liebten;
für sie hab ich gespielt –

Dank für die Welt von Träumen
Dank für die Wirklichkeit
Dank, dass ich nie dem Nichts erlag
in dieser schweren Zeit –

Nun wird es Zeit zu danken...
Das Wort vermag es nicht!
Doch du nimm den Verstummten
Herr, wortlos heim ins Licht.


Was für eine Gnade, wenn ein Mensch so danken kann.


Pfarrer Stefan Mai

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