Der Mann mit dem besonderen Blick

Predigt zum Fronleichnamsfest 2006

Einleitung

Einen Augenblick, bitte!, sagen wir manchmal. Und wir meinen: Lass mich bitte in Ruhe. Ich habe jetzt keine Lust, mich mit dir zu befassen. Das ist doch merkwürdig: Wir bitten um einen „Augen-blick“ – und sagen damit eigentlich: Schau du weg. Ich schau auch weg.
Heute am Fronleichnamstag blicken unsere Augen alle auf einen kleinen Punkt: auf das heilige Brot in der Monstranz. Die Monstranz will unsere Blicke auf sich ziehen, aber nicht auf das Gold und Silber, sondern auf die Gestalt, die hinter dem Brot steckt. Dafür sollten wir uns mehr als einen Augenblick Zeit lassen. Denn vom Blick Jesu auf die Menschen lässt sich ungeheuer viel lernen.

Predigt

Schade, dass bei der Fronleichnamsprozession nur ein einziger diesen Blick hat: den Blick durch das runde Glasfenster der Monstranz. Wenn ich die Monstranz in den Händen halte, wenn ich durch das runde Glasfensterchen vorbei am heiligen Brot auf die Straßen und Menschen schaue, ist es immer ein besonderer Augenblick für mich. Dieses Brot, das Zeichen für Jesus, vor Augen – und zugleich die Straßen und Menschen, denke ich mir: Das wär´s, unsere Welt durch die Brille Jesu zu sehen, mit den Augen Jesu auf die Menschen zu schauen und auf sie zuzugehen. Mit seiner Sichtweise schwierige Situationen zu beurteilen. Nirgends kann man die Sichtweise Jesu besser kennen lernen, als in den Geschichten, die von ihm erzählt werden. Ich greife fünf typische Sichtweisen heraus.

1. Auch im größten Gauner noch das Gute sehen

Jesus hat schon eine besondere Gabe. Er kann von jedem etwas lernen. Er malt nicht nur die berühmten Beispiele seiner Glaubenstradition vor Augen, sondern schaut einfach aufs Leben. Das Provozierende an Jesus besteht darin, dass er sogar von den Typen noch etwas lernen kann, die jeder als schlechtes Beispiel abfertigt.
Obwohl Jesus selbst von ihm sagt, dass er keine Rücksicht auf Menschen nimmt und nicht einmal Gott fürchtet, stellt er ihn als Vorbild hin: den Richter, der sich von der hartnäckigen Witwe am Ende doch weich kochen lässt (vgl. Lk 18,1-8). Auch an den härtesten Knochen geht couragiertes Auftreten von einfachen Leuten nicht spurlos vorüber. Auch eiskalte Burschen haben eine menschliche Seite. Und einen anderen, den alle Welt als Gauner titulieren würde, weil er zu seinen eigenen Gunsten das Vermögen seines Herrn verschleudert, den lobt Jesus wegen seiner Lebensklugheit (vgl. Lk 16,1-8).

2. Hinter dem scheinbar Korrekten die fiesen Tricks sehen

Und umgekehrt: Wo alle Welt sagt: „Völlig o.k.“, durchleuchtet Jesus die Dinge auf Herz und Nieren. Wo die Frommen sagten: Oh, der spendet viel für den Tempel, da sagt Jesus: Das ist ein fauler Trick. Wenn du dich damit von der Pflicht, für deine eigenen Eltern zu sorgen, loskaufen willst, dann ist auf deine Großzügigkeit gepfiffen (vgl. Mk 7,11-13). Der Blick Jesu lehrt mich: Täusche dich nicht und lass dich nicht täuschen: Hinter hehren Motiven stecken oft sehr eigennützige Interessen.

3. Jesu Röntgenblick für die tiefen Sehnsüchte der Menschen

Wenn ich mir die Begegnungen Jesu mit Menschen anschaue, muss ich sagen: Er war er kein Freund des unverbindlichen Small Talk. Bei ihm geht es sofort zur Sache. Er hat den Blick, der die Oberfläche schnell durchstößt. Von Satz zu Satz steigt das Gespräch mit der Samariterin am Brunnen in die Tiefen ihrer Sehnsüchte hinunter. Jesus spricht den Punkt an, über den alle tuscheln und über den doch niemand offen redet: ihre unglücklichen Beziehungskisten. Und die Samariterin spürt: Er hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich sehne mich nach nichts mehr als nach Geborgenheit und verlässliche Nähe (vgl. Joh 4,1-42).

4. Die realistische und doch optimistische Sichtweise Jesu (Sämann)

Und trotz seiner Sensibilität hat Jesus einen nüchternen Blick für die Realität des Lebens. Er weiß: Vieles ist umsonst. Vieles geht nicht auf. Vieles bleibt im ersten Keim stecken. Vieles Hoffnungsvolle verdorrt doch. Und trotzdem: Jesus macht weiter. Er investiert seine Kräfte. Er gibt neue Chancen. Trotz aller Enttäuschung bleibt er dabei: Etwas trägt immer Früchte. Davon erzählt er im Gleichnis vom Sämann (vgl.Mk 4,1-9).

5. Dem Achtung schenken, vor dem alles ausreißt

Und vielen wird dieser Jesus wegen eines besonderen Blicks fast unheimlich. Er sieht diejenigen, die niemand zu Gesicht bekommen will. Ohne Scheu und ohne Berührungsangst geht er auf sie zu: auf die Aussätzigen, die man absondert und die mit dem normalen Leben nicht mehr in Berührung kommen sollen; auf die Besessenen, die man lieber ihrem eigenen Schicksal überlässt als sich ihrer unheimlichen Ausstrahlung auszusetzen; auf die Anrüchigen, die Zöllner und Dirnen, um die man am liebsten einen weiten Bogen macht.
Fünf Sichtweisen, von denen wir uns anstecken lassen könnten, wenn wir mit Jesus durch die Straßen unserer Stadt/unserer Gemeinde ziehen: auch im größten Gauner noch das Gute sehen – hinter dem scheinbar Korrekten die fiesen Tricks erkennen – den Röntgenblick für die tiefen Sehnsüchte der Menschen haben – realistisch und doch optimistisch aufs Leben schauen – auch dem Achtung schenken, vor dem alles ausreißt. Ich bin überzeugt: Wenn wir uns diese Sichtweisen Jesu zu eigen machen könnten, bekäme auch unsere Stadt/unsere Gemeinde ein anderes Gesicht.

Fürbitten

Herr Jesus Christus, du hast dir den Blick für das Gute bewahrt. Wir bitten dich:
V: Herr, lass mich das Gute sehen.
A: Herr, lass mich das Gute sehen.

- bei meinen Angehörigen …
- bei mir selbst
- bei meinen Vorgesetzten
- bei den Menschen, mit denen ich nicht zurechtkomme
- bei Menschen, die anders denken als ich
- bei der Kritik, die andere an mir äußern

Jesus, du Menschenkenner, wir bitten dich:
V: Bewahre uns, o Herr.

- vor aller Oberflächlichkeit …
- vor allem vorschnellen Urteilen
- vor billigen Pauschalurteilen …
- vor der Angst, sich auf ein tiefes Gespräch einzulassen …
- vor der Flucht in die Verharmlosung …
- vor einer veräußerlichten Frömmigkeit ohne Tiefe …


Pfarrer Stefan Mai

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