Schöne Worte – sonst nichts?

Predigt zum 7. Ostersonntag (1 Joh 4,11-16)

Einleitung

So schnell werde ich die Stunde nicht vergessen: Ein Männerchor aus dem Hochspessart singt die einfache Weise getragen und ganz ergriffen: „Wo Güte, da Liebe; wo Liebe, da Friede; wo Friede, da Gott; wo Gott, keine Not.“ – In der heutigen Lesung hören wir, aus welcher Quelle sich dieses einfache Lied speist.

Predigt

Ich möchte nicht wissen, wie viele während der ersten Lesung einfach abgeschaltet und sich gedacht haben: Schöne Worte – nichts dahinter! „… wenn Gott uns so geliebt hat, dann müssen auch wir einander lieben“, hieß es da im ersten Johannesbrief. Aber wir alle wissen: Wie oft wird die Liebe Gottes für uns Menschen in den Gottesdiensten beschworen – und wie wenig ist davon zu spüren: in unseren Gemeinden, gerade unter Christen.

Unter diesem Zwiespalt litt auch der Abt eines berühmten Klosters. Tag für Tag wurde dort aus der heiligen Schrift gelesen und viele Stunden das Lob Gottes gesungen. Aber die Atmosphäre im Kloster war schal geworden. Die Mönche strahlten nichts mehr aus. Erst blieben die Novizen aus, dann die Besucher. In seiner Not holte sich der Abt Rat bei einem Einsiedler, der ganz in der Nähe in einer Hütte im Wald wohnte. Am Morgen nach der Eucharistiefeier machte er sich auf den Weg. Als er sich der Hütte näherte, sah er den Einsiedler in der Tür stehen, die Arme weit zum Willkommensgruß ausgebreitet. Es war, als hätte er schon eine Weile dort gewartet. Die beiden umarmten sich wie lang verlorene Brüder. Dann traten sie zurück und blieben einfach stehen und schauten einander lächelnd an.

Nach einer Weile lud der Einsiedler mit einer Handbewegung den Abt in seine Hütte ein. Mitten im Zimmer stand ein hölzerner Tisch, auf dem die geöffnete Bibel lag. Einen Augenblick saßen sie dort – in der Gegenwart des Buches. Dann fing der Einsiedler an zu weinen. Der Abt konnte nicht an sich halten. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und begann auch zu weinen. Zum ersten Mal in seinem Leben weinte er sich so richtig aus. Wie verlorene Kinder saßen die zwei Männer dort, ihr Schluchzen hallte durch die Hütte, und ihre Tränen netzten den Tisch.

Als die Tränen versiegten und alles wieder still war, hob der Einsiedler seinen Kopf. „Du und deine Brüder dienen dem Herrn mit schwerem Herzen“, sagte er. „Du bist gekommen, um dir von mir Rat zu holen. Ich will dir eine Weisung geben, aber du darfst sie nur einmal wiederholen. Danach darf niemand sie je wieder laut aussprechen.“ Der Einsiedler schaute den Abt offen und ernst an und sagte: „Der Messias ist unter euch.“ Eine Weile war alles still. Dann sagte der Einsiedler: „Du musst nun gehen!“ Ohne ein Wort, ohne auch nur zurückzuschauen ging der Abt fort.

Am nächsten Morgen rief der Abt seine Mönche im Kapitelsaal zusammen. Er erzählte ihnen, dass er vom Einsiedler, der im Walde wandelte, eine Weisung erhalten habe und dass diese Lehre nie wieder laut ausgesprochen werden dürfe. Dann schaute er seine Brüder einzeln an und sagte: „Der Einsiedler hat gesagt, einer von uns sei der Messias.“ Die Mönche waren von dieser Aussage bestürzt und fragten sich, was sie bedeuten könne. „Ist Bruder Johannes der Messias? Oder Pater Matthias? Oder Bruder Thomas? Bin ich der Messias?“ Alle waren ganz verwirrt von diesem Wort des Einsiedlers. Aber keiner erwähnte es je wieder.

Mit der Zeit begannen die Mönche, einander mit einer ganz eigenen Ehrfurcht zu begegnen. Etwas Edles und Aufrichtiges, etwas warmherzig Menschliches war unter ihnen, das schwer zu beschreiben, aber leicht zu bemerken ist. Sie lebten zusammen wie Menschen, die endlich etwas gefunden haben. Gemeinsam betrachteten sie die Schrift wie Menschen, die immer voll Erwartung waren. Gelegentliche Besucher fühlten sich tief bewegt vom Leben dieser Mönche.
Liebe Kinder, liebe Erwachsene! „Der Messias ist mitten unter euch“ war das Zauberwort, durch das ein müde und unattraktiv gewordenes Kloster plötzlich wieder neuen Glanz und neue Anziehungskraft bekam. Allein der Gedanke: Gott hat mit dem anderen noch etwas Großes vor, hat den Umgangsstil der Mönche untereinander verändert. Ich weiß: Das ist noch lange nicht das hehre Ziel des ersten Johannesbriefes: „… wenn Gott uns so geliebt hat, dann müssen auch wir einander lieben“ – aber es ist ein guter Anfang. Und ich meine, dieser Anfang lässt sich auch in unseren Gemeinden, in unseren Gremien, in unseren Familien praktizieren. Wenn ich fest davon überzeugt bin: Gott hat mit anderen noch etwas ganz Großes vor, dann gehe ich auch anders mit ihm um.

Fürbitten

Gott, du Freud des Lebens, du hast jedem Menschen seine Würde geschenkt. Wir bitten dich:

– Wir beten für alle Eltern, für die ihre Kinder das kostbarste Geschenk sind, dass Ihnen anvertraut wurde …

– Wir beten für die Ehepartner, die ganz bewusst in der Andersartigkeit ihrer Frau oder ihres Mannes eine wichtige Ergänzung ihres Lebens sehen …

– Wir beten für alle Altenpfleger und –pflegerinnen, die Tag für Tag mit verwirrten und dementen alten Menschen mit großem Respekt und Wohlwollen umgehen …

– Wir beten für alle Menschen, deren Würde unmenschlich mit Füßen getreten wird …

– Wir beten für alle, die mit großer Aufmerksamkeit Menschen und das Leben um sich herum wahrnehmen und auch dadurch Gottes Spuren im Alltag entdecken möchten.

Gott, lass uns daran glauben: Du bist die Liebe und wer in der Liebe bleibt, bleibt in dir und du in ihm.


Pfarrer Stefan Mai

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