Wir halten den Himmel offen

Predigt zum Himmelfahrtstag 2006

Eines der schönsten Bilderbücher für Kinder ist für mich das Buch „Das Tal im Nebel“ von Arcadio Labato. Es erzählt:

In einem fernen Land gab es ein tiefes Tal, das immer im Nebel lag. Noch nie hatten die Bewohner dieses Tales das strahlende Licht der Sonne gesehen. Auch Mond und Sterne waren für sie unbekannte Dinge. Kein Mensch war jemals auf die Berge gestiegen, um auf die andere Seite hinunterzuschauen.
Die Greise sagten zu den Erwachsenen: „Es gibt nichts Schöneres als unser Tal, und außerhalb unseres Tales gibt es nichts.“ Die Erwachsenen sagten zu ihren Kindern: „Wir haben alles was wir brauchen in unserem Tal, außerdem ist es das schönste auf der ganzen Welt.“
Die Kinder glaubten ihnen, und wenn sie selber Erwachsene oder Greise waren, sagten sie dasselbe zu ihren Kindern und Enkeln. So vergingen Jahre und Jahrhunderte.
Im Tal gibt es eine wunderliche Stadt namens Bruma. Außerhalb dieser Stadt lebt ein Junge mit seinem Großvater.
Wenn die Leute vorbeigehen, sagen sie: „Dort wohnen Stepan und sein Großvater, der Narr!“
Der Großvater behauptet nämlich, hinter den Bergen gäbe es eine ganz andere Welt, strahlend und voller Farben....
Deshalb halten ihn die Leute für verrückt, und sie haben ihn vor langer Zeit zur Stadt hinausgejagt.
Stepan ist ganz sicher, dass sein Großvater die Wahrheit sagt. Wie gerne möchte er ihm helfen, alles zu beweisen!
Aber Großvater erklärt ihm eines Tages: „Schau Stepan, ich bin schon zu alt, um auf die Berge zu steigen. Vielleicht wirst du später einmal hinaufsteigen und den Weg des Lichtes öffnen. Zuerst aber musst du noch tüchtig wachsen und stark werden, damit dich niemand daran hindern kann.“
In dieser Nacht liegt Stepan wach. Er denkt: Ich möchte, dass mein Großvater das Licht der Sonne sehen kann, bevor er stirbt. Und er beschließt, sich heimlich auf den Weg zu machen. Es ist sehr dunkel, aber Stepan geht tapfer vorwärts. Er hört das Rauschen des Flusses, der ihm sagt: „Geh nicht, es ist verlorene Zeit!“ Die Eule sagt ihm: „Geh nicht, außerhalb dieses Tales gibt es nichts zu tun!“ Die Wölfe sagen: „Wenn du weitergehst, wirst du sterben!“ Stepan hat Angst. Trotzdem geht er weiter und weiter, bis es zu tagen beginnt.
Der Nebel ist ganz durchsichtig geworden. Stepan ist auf dem Gipfel eines Berges angekommen, und zum ersten Mal in seinem Leben sieht er die Sonne aufgehen. Noch leuchten ein paar Sterne am Himmel. Von da oben sieht er, wie die Wolken am Tale kleben. Nur die hohen Türme des Stadtpalastes schauen aus dem Nebel heraus. Stepan eilt in seine Stadt zurück und spricht mit der Ratsversammlung der Greise. „Ich habe eine Welt voll Farben gesehen, auf der anderen Seite der Berge“, sagt er ihnen. „Das kann nicht stimmen“, entgegnen sie. „Unsere Stadt ist die einzige, die es gibt. Wer bist du überhaupt?“
Jemand schreit: Es ist Stepan, der wie sein Großvater nun auch verrückt geworden ist!“ Und alle lachen.
Stepan wird sehr böse: „Ich habe es aber gesehen, und ihr alle könnt es auch sehen! Die Türme des Palastes sind nämlich höher als der Nebel. Lasst uns hinaufsteigen!“
„Es ist verboten, auf die hohen Türme zu steigen“, schreien die Erwachsenen. „Es ist sehr gefährlich. Schon immer war es verboten, und noch nie ist jemand hinaufgestiegen.“
„Das wird sich nun ändern“, antwortet Stepan, und schnell beginnt er, die steilen Treppen hinaufzusteigen. Er ist sehr flink und kommt rasch voran. Die Greise springen hinter ihm her: „Halte an, oder wir rufen die Wache!“
Stephan erschrickt, aber er steigt weiter hinauf. Die schreienden Greise folgen ihm. Als die Wache daherkommt, ist Stepan schon weit oben. Sie rufen: “Komm zurück, oder wir werfen dich ins Gefängnis!“ Aber Stepan merkt, dass sie ihn nicht mehr einholen können und steigt weiter.
Als alle auf dem Turme ankommen, hört man entzückte Rufe: Ah! Oh! Ah! Oh! Alle staunen:
Stepan und sein Großvater haben recht gehabt.
Stepan lässt die Leute stehen und geht zu seinem Großvater. Er will ihm alles erzählen. Nachher schläft er, denn er ist sehr müde. Der Großvater betrachtet ihn voller Stolz und Freude.
Viel Zeit ist seither vergangen. Die Stadt des Nebels sandte ihre Leute aus, und so lernten die Bewohner von Bruma die Sonne kennen. Es kamen aber auch Reisende von weit her, um die Schönheit der Nebelstadt zu bestaunen.
Oben auf dem Berg, wo sich das Licht und der Nebel küssen, wohnen Stepan und sein Großvater in einem kleinen Häuschen. Wenn die Leute vorbeigehen, sagen die sie:
„Hier wohnen Stepan und sein Großvater, der Weise.“

Eine faszinierende Erzählung, die ins Bild bringt: Über diesem Tal im Nebel gibt es die geheimnisvolle andere Welt mit dem faszinierenden Geheimnis Gott. Ein Leben lang wollte Jesus in Menschen die Sehnsucht nach diesem Geheimnis wach halten, sie spüren und erfahren lassen: Der Glaube an dieses Geheimnis bringt Spannung in dein Leben. Und die Himmelfahrterzählung möchte mich gerade in diesem Glauben stärken: Schau auf diesen Jesus und glaub daran: es werden auch einmal die bei ihm sein, die ihre Hände nach ihm ausgestreckt haben, deren Augen ihn gesucht und deren Herzen seine Ruhe ersehnt haben.

Liebe Leser, Unsere Welt braucht auch heute Menschen wie Stepan und seinen Großvater, die hinter die Oberfläche schauen, den Dingen auf den Grund gehen möchten und die über das Vorfindliche hinausfragen. Unsere Welt braucht Menschen, die sich nicht mit Vorletztem abspeisen lassen und eine große Sehnsucht in sich wach halten. Die immer wieder anhalten mitten im Getriebe und sich wie Angelus Silesius fragen: „Halt an, wo laufst du hin? Der Himmel ist in dir. Suchst du ihn anderswo, du fehlst ihn für und für.“
Solche Kinder, Jugendliche, Männer und Frauen sind Menschen, die im tiefsten Sinn des Wortes den raffinierten Werbeslogan der Lufthansa wirklich einlösen: „Wir halten den Himmel offen.“


Pfarrer Stefan Mai

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