In Reißbrettmanier oder Gärtnermentalität?

Predigt zum Bittgottesdienst 2006 (Evangelium Mt 6,25-34)

Viele von uns kennen das Lied „Nehmt Abschied, Brüder...“ Da heißt es in der vierten Strophe: „Nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis, das Leben ist ein Spiel. Nur wer es recht zu leben weiß, gelangt ans große Ziel ...“
Ich konnte noch nie so recht diese Strophe singen. Leben ist kein Spiel, das Leben ist Aufgabe, Herausforderung, die Kunst, mit meinen Fähigkeiten, mit meinem Nervenkostüm, unter meinen Lebensumständen das Leben zu gestalten – zu meiner Freude und zum Wohl meiner Mitmenschen. Und es ist die Kunst, mit den Widrigkeiten fertig zu werden.
Die Frage ist, welche Lebenseinstellung hilft mir dabei?

Wenn ich richtig liege, gehen immer mehr Menschen mit einer Reißbrett-Mentalität ans Leben heran – möglichst alles durchgeplant: Karriere – Familie – Erziehung der Kinder, das Leben wird durchgestylt – auf hohem Niveau und mit hohen Ansprüchen.
Man möchte das Leben nur zu gern im Griff haben, es neu entwerfen – das Leben machen.
Man geht sehr berechnend ans Leben heran.
Die Widrigkeiten, Querschläge, Krankheit und Schicksalsschläge: so lange wie es geht nur ausblenden.
Frühere Menschengenerationen, die stark in Naturprozesse eingebunden waren, gingen anders ans Leben heran: In einer dem Leben gegenüber sehr demütigen Haltung. Sie wussten: Das Leben ist nicht nach meinem Gusto, nach meinen Plänen in den Griff zu kriegen. Sie wussten: Das Leben ist mir als kostbares Gut geschenkt, aber ich bin auch in Lebenslagen und Bedingungen hineingezwungen. Ich kann nicht alles aus dem Leben machen. Ich kann nicht alles zu jeder Zeit haben. Ich kann nicht immer im Leben mit Power und nach Plan verfahren.
Im Leben gibt es, wie in der Natur, Brachzeiten, wo nichts vorwärts geht, Zeiten, wo alles zusammengehagelt werden kann und alles zusammenzubrechen droht, aber trotzdem verliert das Leben nicht seinen Sinn und seinen Wert.
Frühere Generationen, die noch mit der Natur vertraut waren, gingen nicht in Reißbrettmanier, sondern mit einer Gärtnermentalität ans Leben heran: Sie beobachteten das Leben genau, hatten es im Bauch, was auf dem Ackerfeld des Lebens möglich ist, staunten dankbar über vieles, freuten sich an allem, was wächst, wussten Wachstumsschübe zu nutzen und hatten es im Gefühl, rechtzeitig, aber nicht voreilig auf Lebensumstände zu reagieren, und ließen sich nicht gleich aus der Bahn werfen, wenn das Leben anders kam als geplant.

Jesus war als Lebenseinstellung die Reißbrettmentalität fremd. Er ging ans Leben in der Gärtnermentalität heran. Er hatte eine hervorragende Beobachtungsgabe und horchte der Natur viele Lebensweisheiten ab.

• Er staunt, wie aus einem kleinen Senfkorn ein großer Strauch werden kann.
• Er staunt, wie sich ohne menschliches Zutun das Getreide entwickelt: zuerst der Halm, und dann die Ähre. Und der Bauer weiß nicht wie.
• Er warnt vor aller übertriebenen Plan- und Machbarkeit, wenn er abrät, das Unkraut aus dem Weizen zu reißen.
• Und feuert im Gleichnis vom reichen Kornbauern einen gewaltigen Warnschuss ab vor aller Raffgier und übertriebenem Vorsorgedenken für sich allein.
Und unermüdlich ermuntert er zu einem unverschämten Gottvertrauen – ein Paradebeispiel und einen Spitzensatz dieser aufregenden Gottgelassenheit haben wir heute wieder gehört.:
„Schaut auf die Vögel des Himmels. Sie säen nicht und sie ernten nicht und unser himmlischer Vater ernährt sie doch.“
„Die Lilien des Feldes, sie spinnen nicht und weben nicht und doch sind sie prächtiger gekleidet als Salomo in all seiner Pracht.“

Die Bittprozession ist nicht in der Kultur der Reißbrettmentalität entstanden, sondern auf dem Boden der Gärtnermentalität. Wenn sie im städtischen Milieu nicht zur bloßen Folklore oder zu einer Art Naturromantik abgleiten soll, ist es gut, sich einmal mit dieser aufgeworfenen Frage auseinanderzusetzen:
Wie packe ich mein Leben an? In Reißbrettmanier oder in Gärtnermentalität?
Und traue ich dem unverschämten Gottvertrauen Jesu, zu dem er ermuntern möchte, und den Liedversen eines Paul Gerhardt, die wir zum Schluss singen: „Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, die dein Fuß gehen kann.“


Pfarrer Stefan Mai

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