Ein dreifacher Weg zur inneren Ruhe

Predigt am 5.Sonntag der Osterzeit (1 Joh 3,18-24)

Zu einem Zen-Meister kam ein Mann und schilderte ihm seine Lebenssituation: „Ich bin müde und ausgebrannt, fühle mich innerlich so leer. Ich stehe andauernd unter Druck und halte diesen kaum mehr aus. Alles fällt mir schwer und die Arbeit macht mir keinen Spaß mehr. Immer mehr muss ich mich zwingen, meine tägliche Pflichten zu erfüllen.“
Der Zen-Meister schaute den Mann lange an und holte dann einen Bogen. Er spannte den Bogen immer mehr und fragte den Mann: „Du weißt, was passiert, wenn ich diesen Bogen lange Zeit überspanne?“ „Er wird zerbrechen“, gab der Mann zur Antwort. „So ist es auch mit uns Menschen“, fuhr der Zen-Meister fort, „wenn wir zu lange unsere Kräfte überspannen, werden wir zerbrechen. Wir können wie der Bogen nur bestehen, wenn wir nach Phasen starker Anspannung uns Phasen der Entspannung gönnen.“

Viele Menschen fühlen ähnlich wie der Rat suchende Mann unserer Geschichte. Sie sind eingespannt in Verantwortung, Aufgaben und Pflichten. Ihr psychischer Haushalt ist dauernd angespannt, die Anforderungen sind hoch, die an sie gestellt werden und fordern Höchstleistungen ab. Und so erscheint das Leben furchtbar anstrengend und sogar überspannt. Obwohl sie sich anstrengen, ihr Bestes geben, hinken sie den Erwartungen hinter her, immer dieses Gefühl im Bauch, noch mehr geben zu müssen. Und immer banger wird die Frage: Wie lange kann ein Mensch das aushalten?

Soziologen beobachten, wie Menschen heute mit der starken Anspannung der psychischen, mentalen und physischen Kräfte umgehen. Wie sie auf große Machtworte unserer Zeit wie Erfolg, Flexibilität, Mobilität und Beschleunigung reagieren. Und sie stellen fest: Menschen entwickeln Gegenstrategien zur beruflichen Anspannung. Einen dieser Gegentrends nennen sie „Cocooning“. Gemeint ist damit der Trend, nach getaner Arbeit es sich zu Hause gemütlich zu machen. Nach den Anstrengungen und Anforderungen des Tages zieht sich der stark beanspruchte Mensch am Abend in sein Haus wie die Raupe in ihr Kokon zurück, schließt hinter sich die Haustür und möchte symbolisch vieles einfach draußen vor der Tür lassen. Wenn er sich untertags oft wie eine Maschine oder aufgezogene Uhr vor kommt, daheim möchte er jetzt seine Ruhe und seinen Frieden haben, nicht funktionieren müssen, es gemütlich haben, einfach Mensch sein können, die Beine in angenehmer Wohnatmosphäre hochlegen, in nicht anstrengender Gartenpflege sich entspannen. Eine exquisite Raumausstattung ist deshalb wieder im Aufwind. Ausgehen, vor ein paar Jahren noch eine willkommene Abwechslung, ist für viele nicht mehr erstrebenswert. Wer eh viel auf Achse ist, genießt es, einmal daheim ganz privat zu sein. Da gönnen sich viele lieber den Pizzaservice oder geben Geld für eine gute Heimkinoanlage aus. „Ach, weißt du,“ meinte einer unserer früheren Professoren, „ich habe erst meinen Ruhe und meinen Frieden gefunden, als ich ein eigenes Haus mit Hund und Garten hatte.“
Ich verstehe diesen Trend, durch den viele Menschen in einer Art Gegenstrategie zu den Trends unserer Zeit sich vor andauernder Anspannung schützen und auf diesem Weg ihre Ruhe und ihren Frieden finden möchten.

Der heutige Abschnitt aus dem Johannesbrief gibt ebenfalls Ratschläge, wie Menschen diese Ruhe finden können. Sein Modell lautet aber anders. Der Schreiber des Briefes macht einen dreifachen Vorschlag:
Sein erster Rat: „Wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit!“
Ins Leben übertragen: Du kommst mit dir ins Lot, du kannst auf Dauer nur mit dir in Frieden leben, wenn dein Wort und dein Leben übereinstimmt, wenn du nichts vorspielst, wenn das, was dir wichtig ist, auch in deinem Verhalten zum Ausdruck kommt.
Sein zweiter Rat: „Wir werden unser Herz in seiner Gegenwart beruhigen.“ Wenn dich Sorgen und Ängste beunruhigen, wenn du nicht weißt, wie du mit diesem Menschen oder diesem Problem umgehen sollst, öffne im Gebet dein Herz und halte es Gott hin. Lass ihn bewusst in dein unruhiges Herz schauen und vertrau darauf: sein Blick tut gut.
Der dritte Rat: „Wenn das Herz uns auch verurteilt – Gott ist größer als unser Herz und erkennt alles.“ Das heißt: Wenn du meinst, du bleibst nicht nur hinter den Erwartungen anderer zurück, sondern wirst auch dem Anspruch an dich selbst nicht gerecht. Ja, wenn du spürst, ich bin schuldig geworden und verstehe mich selbst nicht mehr. Vertrau darauf, Gott kann einordnen, was du selbst nicht verstehen kannst. Er sieht deine unbewussten Motivationen und Handlungsimpulse und durchblickt das komplizierte Geflecht deiner Persönlichkeit und Beziehungen, in die du eingebunden bist.

Dass man mit solchen Ratschlägen leben und innere Ruhe finden kann, dafür ist Martin Luther ein Beispiel. Er fand in dieser Bibelstelle aus dem Johannesbrief in einer Zeit heftiger innerer und äußerer Bedrängnis – in Wittenberg wütete die Pest, er selbst steckte in seiner schwersten Depression – Hilfe und Halt: „Es ist eine Epistel übervoll von Trost, die ein unruhiges Herz trösten kann“, schreibt er voller Erleichterung.


Pfarrer Stefan Mai

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