Wo den Klang deiner Stimme kennenlernen?

Predigt zum 4. Sonntag der Osterzeit (Joh 10, 11-18)

Ein Israel-Besucher traf an einer Wasserstelle auf drei Hirten, die ihre Schafherden gemeinsam tränkten. Die drei palaverten miteinander, während die Schafe wild durcheinander liefen, um an das köstliche Nass heranzukommen. Als sich die Tiere satt getrunken hatten, nahm der eine Hirte seinen Stab und rief: „Men ah!“, das heißt: Folgt mir! Und sogleich schloss sich ihm seine ganze Herde an. Dann rief der zweite Hirt, und das gleiche geschah.
Der Besucher staunte und fragte den letzten Hirten: „Würden deine Schafe wohl auch mir folgen?“ Der Hirte schüttelte den Kopf, doch meinte er: „Versuche es!“ Daraufhin zog der Fremde den Mantel des Hirten an, band sich dessen Turban um, nahm den Hirtenstab und rief: „Men-ah!“ Aber kein Tier folgte ihm. Der Hirte lächelte: „Nur wenn ein Tier krank ist, folgt es dem Nächstbesten.“

Ähnlich ist es auch bei uns Menschen in den ersten Lebensjahren. Die Stimme von Vater und Mutter ist für den Säugling ein Tor zur Welt. Wenn er die Stimme von Vater und Mutter hört, ist das eine vertraute Welt, die Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Wie oft beginnen kleine Kinder zu lächeln, wenn ihre Mutter sie lieb anspricht, wie oft beginnen sie zu kirren und Freudenlaute auszustoßen, wenn sie mit ihnen scherzt oder wirkt im Weinen beruhigend. Kinder hören die Stimmen ihrer Eltern heraus und spüren schon an der Stimmlage, welche Gemütslage gerade Vater und Mutter haben. Fremde Stimmen verunsichern dagegen ein kleines Kind, schrecken erst einmal ab. Kinder „fremdeln“ sagt man. Sie müssen sich erst einmal an neue Stimmen gewöhnen.

Auf diesem Erfahrungshintergrund ist auch das Wort Jesu im heutigen Evangelium zu verstehen: „Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“ In der Bildersprache seiner Zeit vergleicht das Johannesevangelium Jesus mit einem guten Hirten, der sich um die ihm Anvertrauten kümmert, sich in Not und Gefahr vor sie stellt, Mut zuspricht und ihnen Wege weist, die zu einem gelungenen Leben führen. Die große Frage aber ist, wie komme ich heute noch möglichst an den Originalton der Stimme Jesu heran. Wie kann ich sie überhaupt noch bei den vielen Reklame-Stimmen in dem Stimmengewirr unserer Zeit heraushören? „Täglich umgeben mich Worte und Stimmen, aber ich höre gar nicht mehr hin; denn deine Stimme höre ich nicht mehr heraus“, heißt die Strophe eines Gotteslobliedes (301/2). Und wem schenke ich mein Vertrauen, dass er mir diese Stimme glaubwürdig vermitteln kann?

Wenn ich richtig liege, ist das Interesse an der Stimme Jesu auch in unserer Zeit noch da. Aber die Frage ist viel offener geworden: Wer kann mir diese Stimme Jesu, das was ihn wirklich bewegt hat, was ihm wichtig und heilig war, authentisch vermitteln? Wir kennen die Antworten unserer Kirche: Seine Stimme können wir hören, wenn wir Gottesdienst feiern, in der heiligen Schrift lesen, im Gebet auf unsere innere Herzensstimme hören. Aber diese Antwort steht nicht mehr unangefragt da, sie hat mächtig Konkurrenz bekommen.

Im letzten Jahr habe ich oft gehört, mit welch großer Spannung Menschen den Sakral-Thriller von Dan Brown mit dem Titel „Sakrileg“ gelesen haben. 48 Millionen Mal wurde dieser Religionskrimi weltweit verkauft und erlebt am 17. Mai seine Weltpremiere auf den Filmfestspielen von Cannes. Beste Schauspieler wie Tom Hanks und Audrey Tautou, bekannt aus dem Film „Die fabelhafte Welt der Amelie“ sind die Hauptdarsteller. Dieser 100 Millionen € teure Religionskrimi vertritt die These, dass Jesus mit Maria von Magdala ein Verhältnis gehabt habe und mit ihr ein Kind hatte. Die katholische Organisation „Opus Dei“ versucht, diese explosive Information unter Verschluss zu halten und schreckt deshalb vor keinen Mitteln zurück, dieses Ziel zu erreichen. Jesus, vermischt mit Sex, Crime und Spannung, ist das Erfolgsrezept von Dan Brown. Und viele hoffen, darin etwas von der echten Stimme Jesu zu entdecken. Für sensationshungrige, reklameanfällige Ohren ist dieses diffuse Jesusgestalt, in die ich meine selbstgemachten religiösen Erwartungen und Selbstfindungsprobleme hineininterpretiere, reizvoller als die kantige Jesusgestalt der Bergpredigt, als dieser Jesus, der durch Kreuz und Leid hindurchgeht und durch die Auferweckung durch Gott als maßgebliches Lebensmodell propagiert wird.
Ich würde nie - wie viele kirchliche Kreise - dazu aufhetzen, das Buch Sakrileg nicht zu lesen oder den neuen Film dazu zu boykottieren. Ich stelle nur eine Glaubwürdigkeitsfrage:
Glauben Sie wirklich, dass es einem Dan Brown und den Filmproduzenten um die echte Stimme Jesu geht oder doch nur um den eigenen Geldbeutel, den immer mehr orientierungslose suchende Menschen bereitwillig füllen?
Derjenige hat für mich viel mehr Glaubwürdigkeit, der diesen Jesus nicht aus Eigeninteressen zurechtbiegt oder ihn mit neuen Geschichtchen aufmotzen will, sondern sich an seiner Stimme, die die Evangelien überliefern, immer wieder neu ausrichten, sich in Frage stellen und korrigieren lässt und tagtäglich selbst versucht, auf diese Stimme zu hören, ins Leben einzubeziehen und nach ihr das Leben zu gestalten – auch wenn er weit hinter dieser Stimme zurückbleibt. Und dazu gehört nach wie vor auch heute meine Kirche mit den vielen Menschen, die sich nach der Stimme Jesu sehnen und Orientierung in ihr finden wollen.


Pfarrer Stefan Mai

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