Die Familie Jesu – ein vorgehaltener Spiegel

Predigt zur Maiandacht am 1. Mai

Maria – im Spiegel der Evangelien, so lautet das Thema der diesjährigen Maiandachten. Heute steht das älteste Evangelium im Mittelpunkt unserer ersten Maiandacht: das Markusevangelium. Wenn wir in das Buch des ältesten Evangelisten schauen und nach Geschichten über Maria suchen, machen wir bald eine Entdeckung.
Die Geschichte von der Verkündigung – Fehlanzeige
Der Besuch Marias bei Elisabeth – Fehlanzeige
Die Erzählung von der Geburt Jesu – Fehlanzeige
Der Besuch der Magier in Bethlehem – Fehlanzeige
Die Flucht der heiligen Familie nach Ägypten – Fehlanzeige
Die Suche nach dem 12-Jährigen – Fehlanzeige
Maria unter dem Kreuz – Fehlanzeige

Im ältesten Evangelium ist Maria kein Thema. Markus hat kein besonderes Interesse an der Figur Maria. Und in der einzigen Geschichte, die er von ihr erzählt, kommt sie gerade nicht gut weg. Hören Sie selbst:

Mk 3,20.21.31-35



Welche Familie sieht es schon gerne, wenn jemand von ihnen aus der Reihe tanzt, Dinge tut, die verrückt erscheinen, die man nicht versteht und nur Kopfschütteln auslösen. Da steht die Familienehre auf dem Spiel. Wie schnell wird dann versucht, den Betreffenden zur Vernunft zu bringen, um die Sache möglichst wenig publik werden zu lassen und kein schlechtes Licht auf die Familie fallen zu lassen.
„Wie stehen wir denn vor den anderen da? Noch niemand von uns hat jemals so etwas getan! Was sollen die Leute von uns denken? Merkst du denn gar nicht, wie sehr du uns blamierst und wie sie über uns die Mäuler wetzen?“
Und schnell werden solche Familienangehörige unter die schwarzen Schafe eingereiht, für nicht normal oder verrückt erklärt. Das soll dann wenigstens vom Verdacht befreien, dass das anstößige Verhalten des Familienmitglieds toleriert oder gar noch gut geheißen oder unterstützt wird.
Nach dem Markusevangelium passiert Jesus genau das mit seiner Verwandtschaft. Seine Angehörigen können einfach nicht verstehen, dass ihr Jesus aus der Reihe tanzt, das Zimmermannshandwerk hinschmeißt, sein normales Leben aufgibt, daheim daheim sein lässt, von seiner Familie abhaut, mit ein paar Typen, die in die gleiche Kerbe schlagen wie er, unten am See Gennesareth rumgammelt und rumzieht, sich bei den Leuten durchbringt, ohne zu arbeiten und seinen Glauben anders lebt, als es seine Familie in Nazareth gewohnt ist.
Es ist schon verrückt, dass die engsten Angehörigen ihren Jesus nicht verstehen, ihn für verrückt erklären und nach Kapharnaum hinabziehen, um ihn endlich wieder zur Räson zu bringen und ihn mit Gewalt wieder zurückzuholen. Ist es nicht verrückt, dass gerade die, die Jesus eigentlich am besten kennen und verstehen müssten, es sind, die am wenigsten verstehen, was ihrem Jesus so wichtig ist?

Ich frage mich: Warum erzählt der Evangelist Markus ausgerechnet diese Geschichte? Kein Wort davon, was die anderen Evangelisten Schönes von Maria erzählen. Kein Wort davon, dass Maria für ihren Jesus gesorgt und ihn erzogen hat. Kein Wort davon, dass sie ihn in seinem Wesen geprägt hat. Hat er nichts von all dem gewusst oder was reitet den Evangelisten Markus, als einzige Geschichte von Maria diesen Vorfall in Kapharnaum zu erzählen, wo sie nicht gerade gut dabei wegkommt? Hat er etwas gegen Marienverehrung? Maiandachten wären ihm anscheinend kein Anliegen!
Für mich ist es faszinierend und es gehört mehr als nur eine Portion Mut dazu, als Evangelist nichts anderes als eine solche anstößige Geschichte über die Familie Jesu zu erzählen. Mit seinem Evangelium wollte er doch für Jesus eine Werbeschrift verfassen. Da würde es doch viel mehr Eindruck machen, wenn Maria und die Familie Jesu in einem besseren Licht dastünden! Aber Markus bleibt dabei: Die einzige Geschichte, in der Maria vorkommt ist eine anstößige und sogar ärgerliche Geschichte. Was nur will er mit ihr?

Der Evangelist Markus verfolgt mit seinem Evangelium eine große Idee. Er ist beflügelt von einer großen Vision. Er träumt nämlich davon, dass alle, die von Jesus begeistert sind und an ihn glauben, über Familien-, Standes- und Nationalitätsgrenzen hinweg eine große Familie bilden, in der es kein oben und unten, kein wichtig und weniger wichtig, sondern in einem herrschaftsfreien Lebensstil ein Füreinander-Dasein gilt, in der Menschen zueinander wirklich wie Brüder und Schwestern sind. Das einigende Band, das alle zusammenhält ist der Glaube an Jesus und das Ernstnehmen seiner Worte und seins Lebensstils. Und so meint der Evangelist Markus mit der Familie Jesu nicht nur Maria und die genannten Brüder und Schwestern, sondern alle, die sein Evangelium lesen und es hören. Im Bild, das Markus uns von der Familie Jesu zeichnet, hält er allen einen Spiegel vor, die zur Gemeinschaft der Christen, zur großen Familie Jesu gehören. Er fragt: Eigentlich gehört ihr als Getaufte zur Familie Jesu. Fragt euch: Lasst ihr wirklich die Ideen, die Forderungen, das herrschaftsfreie Denken Jesu als unverrückbares Fundament stehen, oder biegt ihr euch diesen Jesus erst schön zurecht, bevor ihr euch auf ihn einlassen wollt? Denkt ihr nicht manchmal: Jesus, so wie du kann man doch heute gar nicht leben, das ist doch verrückt, das geht doch an der Wirklichkeit vorbei. Die Sätze Jesu, die uns unbequem sind und Kopfzerbrechen bereiten, die stellen wir lieber zurück und basteln uns einen Jesus zusammen, der uns passt.
Der Evangelist Markus stellt mit dieser provozierenden Familiengeschichte eines klar: Liebe Schwestern und Brüder, es reicht nicht, zur Familie Jesu zu gehören, es reicht nicht, sich Brüder und Schwestern Jesu zu nennen, es reicht nicht, brav in die Kirche zu gehen, zu beten und nach außen hin ein anständiges Leben zu führen. Das entscheidende Kriterium der „Schwestern und Brüder Jesu“: „Jeder, der den Willen Gottes tut, ist mir Schwester, Bruder und Mutter.“ Und den Willen Gottes tun heißt für den Evangelisten Markus knallhart: Das Leben auch in seinen Härten und seiner Unverständlichkeit im Glauben annehmen und zu bestehen, wie es ist. Nicht nur an Jesus glauben wollen, wenn der Weg mit Rosen gestreut ist. Nicht Karriere und gute Stellung als erstrebenswertes Lebensziel betrachten, sondern sein Leben als Dienst für andere verstehen. Nicht groß herauskommen wollen, sondern ein Augenmerk für die Kleinen und das Kleine im Alltag zu haben. Das ist schon verrückt!


Pfarrer Stefan Mai

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