Trauerverarbeitung zwischen zwei Extremen

Predigt in der Osternacht 2006

Liturgie der Osternacht

Einleitung

Das Grab ist immer eine Provokation für den Glauben. Es rüttelt an den Grundfesten. Es lässt zweifeln. Erschüttert das Gottesbild. Bringt ins Schleudern. Scheint die Endstation zu sein.
Die Osternacht erzählt in vielen Beispielen, wie Menschen mit Gräbern konfrontiert werden, ins Strudeln kommen, aber verwandelt weggehen.

Einführung in die 2. Lesung

Er meint, er schaufelt sich sein Grab. Und dabei ist es ein neuer Anfang. Er meint, er muss alles hergeben, und dabei gewinnt er eine neue Sicht. Er meint, er steht vor der Wand, dabei wird er in eine neue Zukunft geführt. Der Mann heißt Abraham.

2. Lesung: Gen 22, 1-18

Zwischengesang: Meine ganze Ohnmacht

Gebet


Einführung in die 4. Lesung

Wenn Menschen Krisen durchmachen, wankt der Boden unter den Füßen. Kracht vieles zusammen. Ist nichts mehr wie es war. Kommt man sich vor, als peitscht einem der Wind ins Gesicht, als steht einem das Wasser bis zum Hals. Der Prophet Jesaja sagt allen, die sich so fühlen: Gott legt dir ein neues Fundament. Das gibt dir Halt. Du brauchst dich nicht mehr zu fürchten.

4. Lesung: Jes 54,5-14

Zwischengesang: 302,1–2 (nach der Melodie 261)

Gebet


Einführung in Ez 37,1-14

Wie oft standen in der Menschheitsgeschichte schon ganze Völker vor riesigen Gräberfeldern. Und jedes Mal die Frage: Wie soll man da noch an die Zukunft eines Volkes glauben können? Als das Volk Israel nach Babylon verschleppt wird und damit vor dem Aus steht, greift der Prophet Ezechiel das Bild vom Gräberfeld auf und weckt mit seinem verrückten Traum neue Hoffnung.

Ez 37,1-14 (Lektionar: Pfingsten, Vorabend)

Zwischengesang: GL 264,3

Gebet


Predigt

Die schlimmste Zeit für Trauernde beginnt nach der Beerdigung. Wenn man in die leere Wohnung kommt – und plötzlich alleine ist. Keiner begrüßt einen. Niemand spricht ein Wort. Der Verstorbene lächelt einem noch von einem Bild entgegen. Aber der Platz darunter bleibt leer. Wie weiterleben ohne den geliebten Menschen? Die Welt draußen läuft ihren gewohnten Gang weiter. Die Anteilnahme lässt nach. Wie mit dem Tod fertig werden? Wie wieder in einen normalen Alltag zurückfinden?
Ich beobachte zwei Extreme: Den einen wird die stetige Erinnerung zu viel. Sie reißen davor aus. Zu sehr schmerzt der Verlust. Sie fangen an, die Schränke auszuräumen. Sie stellen die Wohnung um. Sie hängen Bilder ab. Sie tünchen neu. Kaufen sich neue Kleider. „Du brauchst Tapetenwechsel“, sagen die Freunde. „Fahr doch mal ein paar Wochen lang weg. Der Abstand tut dir gut.“ Trauerverarbeitung durch Ablenkung.
Das andere Extrem ist die museale Erinnerung. Alles muss bleiben wie es war. Das Kalenderblatt des Todestages wird nicht abgerissen. Die Zeit bleibt stehen. Die Tasse, aus der der Verstorbene zum letzten Mal getrunken hat, wird nicht mehr angerührt. Der letzte Roman, den er immer vor dem Einschlafen gelesen hat, bleibt am Nachttisch liegen. Das Passbild wird vergrößert. In einem Rahmen steht es auf dem Wohnzimmertisch. Stets Blumen und eine brennende Kerze davor. Das Bild ist Ansprechpartner. Trauerverarbeitung durch Festhalten.
Jeder, der um einen lieben Menschen trauert, muss zwischen diesen beiden Extremen seinen Weg finden. So auch die Frauen, die nach der Kreuzigung Jesu sein Grab aufsuchen. Wir merken schnell: Sie versuchen Trauerverarbeitung durch Festhalten. Sie kommen mit wohlriechenden Salben zum Grab. Höchst ungewöhnlich: Was soll das nach der Bestattung? Die Frauen wollen ihre Erinnerungen einbalsamieren. Den Toten pflegen. In Kontakt bleiben. Sie können ihn einfach nicht loslassen.
Und da kommt ihnen der junge Mann dazwischen. Er setzt sie auf die Fährte einer anderen Art von Trauerverarbeitung. Er weiß, was sie zum Grab treibt: Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Und er mutet ihnen zu: Er ist nicht hier. Hier findet ihr ihn nicht. Und er rät ihnen: Schaut noch einmal auf die Stelle, wo er gelegen war. Und dann geht! Geht zu seinen Freunden. Geht zusammen mit ihnen dorthin, wo ihr mit ihm angefangen habt. Sucht die Orte auf, an denen er euch mit seinen Ideen begeistert hat. Und handelt wie er. Und ihr werdet sehen: Er ist bei euch.
Ein dritter Weg der Trauerverarbeitung, den das Osterevangelium vorschlägt? Nicht den Toten festhalten wollen, sondern das festhalten, was dem Toten wichtig war. Nicht ein Mausoleum für den Toten bauen, sondern daran weiterbauen, wofür sich der Verstorbene eingesetzt hat, die Werte weiterpflegen, die dem Toten ein Anliegen waren, das hochhalten, was dem Verstorbenen heilig war. Das Evangelium rät: Geht diesen dritten Weg – und ihr werdet sehen: Der Tote ist nicht tot, er bleibt bei euch.


Pfarrer Stefan Mai

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