Freundschaft – ein zerbrechlicher Schatz

Einleitung zur Palmprozession

Kinder sind untröstlich, wenn sie sehen, dass andere Freunde und Freundinnen haben und sie selbst nicht. Freunde haben ist etwas Großes für sie und sie sagen dann voller Stolz: Der oder die ist mein Freund, meine Freundin.
Ein Leben ohne Freunde und Freundinnen hätte sich Jesus nicht vorstellen können. Das erzählen alle Evangelien. Jesus war kein Familienmensch. Zum Leidwesen seiner Verwandtschaft zeigt er auf sein Freunde und meint: Das hier sind für mich Geschwister, Vater und Mutter.
Von Anfang an sucht sich Jesus zwölf Freunde, zieht mit ihnen durchs Land; versucht, sie für seine Ideen zu begeistern, redet, lacht, streitet und feiert mit ihnen. Obwohl sie so viel Zeit miteinander verbracht, so viel miteinander erlebt, so viel gesprochen und gefeiert haben, scheinen die Zwölf ihren Freund Jesus nie richtig verstanden zu haben. Sie hofften insgeheim auf eines: mit ihm Erfolg zu haben, ein Stück Karriere machen, groß mit ihm herauskommen. Und die große Gelegenheit sehen sie kommen, als Jesus nach Jerusalem kommt und ihm ein begeisterter Empfang beschert wird. Ob sie jemals geglaubt hätten, wie schnell Freundschaftsbande zerbrechen können, wie schnell ein Freund nach dem anderen abbröckelt?

Diese traurige und harte Wahrheit erzählt uns die Passionsgeschichte im Anschluss an die Erzählung vom Einzug in Jerusalem, wo alle noch dabei sind. Freundschaft kann schnell ins Wanken kommen.

Freundschaft, ein großes Gut, aber auch ein sehr zerbrechlicher Schatz. Unter diesem Aspekt möchte ich mit Ihnen in diesem Jahr einmal die Passionsgeschichte nach Markus betrachten.

Einschübe zur Markuspassion

Vor Mk 14,1:

Der Beginn der Passionsgeschichte lässt bereits aufhorchen:
Eine fremde Frau zeigt Jesus ihre Zuneigung und Wertschätzung. Für Jesus ist ihr nichts zu teuer und nichts zu viel. Echte Zuneigung rechnet nicht.
Und gleich im Kontrast zu ihr: Einer der Zwölf rechnet und verkauft schließlich sogar seinen Freund.

Vor Mk 14,32:

Einer der schönsten Texte zum Thema Freundschaft im AT rät: „Willst du einen Freund gewinnen, so gewinne ihn durch Erprobung, schenk ihm nicht zu schnell dein Vertrauen!“ (Sir 6,7)
War Jesus zu leichtgläubig, zu vertrauensselig gegenüber Menschen und auch gegenüber seinen Freunden?
Der Freundschaftstext aus Jesus Sirach ist vorsichtig und skeptisch: „Mancher ist Freund je nach der Zeit, am Tag der Not hält er nicht stand.
Mancher ist Freund als Gast am Tisch, am Tag des Unheils ist er nicht zu finden.
In deinem Glück ist er eins mit dir. In deinem Unglück trenn er sich von dir“ (Sir 6, 8.10.11).
Dachte Jesus zu idealistisch vom Menschen?

Vor Mk 14,66

Durch dick und dünn wollte er gehen mit seinem Freund: Petrus, Freund der ersten Stunde und stetiger Begleiter Jesu. Wie kein anderer hat er das Ideal der Freundschaft beschworen – und dann diese Enttäuschung!

Vor Mk 15,20

„Da verließen ihn alle und flohen.“ Lapidarer kann man das Versagen der Freunde Jesu nicht beschreiben.
Fremde sind es dann, die Jesus letzte Freundschaftsdienste erweisen:
Simon von Kyrene hilft ihm auf dem Weg zum Sterben.
Und der Fremde Josef von Arimathäa erweist Jesus den letzten Liebesdienst und lässt den Gekreuzigten in seinem Familiengrab bestatten.

Nach der Passion:

Die Passionsgeschichte ist auch die Geschichte einer tragischen und gescheiterten Freundesgeschichte. Schöne Freunde waren das! Und doch ist diese Freundesgeschichte nicht einfach aus.
Warum? Weil einer an die Freundschaft glaubt. Über seinen Tod hinaus wird er an die gemeinsame Freundschaft erinnern. Er fordert sie neu heraus. Wenn einer so unbeirrt an seinen Freunden festhält, das ist wahre Freundschaft, wahre Zuneigung.


Pfarrer Stefan Mai

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