Kirche – ein Gewebe ohne Modellzeichnung

Predigtreihe am Misereor-Sonntag zu Skulpturen des Kindergartenteams „Noch Erwartungen an die Kirche?“ anlässlich des 25-jährigen Pfarreijubiläums

Bilder drücken mehr aus als Begriffe. Deshalb verwendet die Bibel schon verschiedene Bilder, um zu beschreiben, was Kirche und Gemeinde ist. Wir kennen das berühmte paulinische Bild vom Leib mit seinen verschiedenen Gliedern. Im Laufe der Geschichte der Kirche sind diese durch weitere Bilder ergänzt worden: „Das Haus voll Glorie“ oder „das Schiff, das sich Gemeinde nennt“.
Roger Schutz, der im letzten Jahr ermordete Prior der ökumenischen Brüdergemeinschaft von Taize, beschreibt die Kirche einmal als „Gewebe ohne Modellzeichnung“. Die Kirche der Zukunft wird seiner Meinung nach einem Gewebe gleichen, aus dem ein Muster entsteht, das ohne Modellzeichnung um uns ständig weitergewoben wird.
Zu Beginn wurde der Grundfaden über den Webrahmen gespannt. In diesem Grundfaden sieht Roger Schutz Jesus Christus und deutet ihn als Grundlage und Hintergrundfolie der Kirche. In diesen Grundfaden knüpfen seit 2000 Jahren Menschen mit den je eigenen Begabungen, an verschiedenen Orten und in verschiedenen Rollen am Gewebe „Kirche“. Kirche entwickelt sich immer dort, wo die verschiedenfarbigen Fäden sich zusammenfügen, sich ergänzen und durch die verschiedenen Farbnuancen zu einem lebendigen Gebilde werden. Sie entsteht dort, wo Fäden, die zu Ende gewoben sind, wieder aufgenommen und an ihnen weitergeknüpft wird. Mein Faden, meine Ideen und mein Einsatz ist ein kleiner Baustein für dieses Gebilde Kirche. In diesem Gebilde gibt es auch die abgerissenen Fäden derjenigen, die den Kontakt aufgegeben haben oder scheinbar keinen Platz in der Gemeinde haben. Im Gewebe Kirche gibt es vorgegebene Strukturen, jedoch keiner weiß, wie dieses Gewebe sich entwickeln, farblich gestalten wird. Kirche ist eine Gewebe ohne Modellzeichnung. Es gibt nie die Kirche, sondern sie ist so, wie die Menschen in ihr. Deshalb verändert sich das Erscheinungsbild der Kirche auch immer wieder.

Eine Skulptur für dieses Verständnis von Kirche steht in unserem Altarraum: Ein Rahmen mit vielen verschiedenfarbigen Fäden als Einladung, meinen Faden da hineinzuweben und dadurch zur Weiterführung des Gewebes beizutragen.



Und auch der Misereorsonntag will dies uns bewusst machen. Er macht uns deutlich: Nicht nur bei uns weben Menschen am Gebilde Kirche mit. Die Völker aller Welt ziehen ihre Fäden in dieses Gebilde ein. Und wenn in diesem Jahr ein Land wie Bolivien im Mittelpunkt steht, ein Land, das vom indianischen Erbe eine hochstehende, farbenfrohe Webkultur besitzt, dann mache ich mir wieder einmal bewusst: Während bei uns in Europa viele Webfäden abreißen, während in den Ländern, die über Jahrhunderte hinweg die farbigen Akzente der christlichen Kultur gesetzt haben, müde werdende Gemeinden oft keine farbige Tupfer mehr weben können, sitzen in den südamerikanischen Ländern vor allem junge Menschen mit Freude am „Webstuhl“ und fädeln sich mit ihren Begabungen und ihrer Begeisterung in das Gewebe Kirche ein. Sie haben Bilder im Kopf, wofür ihre Kirche dienen könnte und versuchen diese Visionen mit Kräften einzubringen.
Der Webstuhl der Kirche stand am Anfang der Kirche im Osten, in den folgenden vier Jahrhunderten wurde am Gewebe Kirche vor allem im vorderen Orient und in Nordafrika ideenreich gearbeitet, bevor die Länder Europas den Faden aufnahmen und kreativ weiterwebten. Diese Bewegung scheint weiter zu gehen und sich nach Süden und in den fernen Osten zu verlagern. Während es kaum mehr kirchliche Gemeinden im Vorderen Orient und Nordafrika, dem Ort der Wiege der Kirche, mehr gibt, während die Jahrhunderte alte christliche Kultur Europas ihre prägende Kraft verliert, setzen die südamerikanischen Länder im „Gewebe Kirche“ starke Farbnuancen und bringen sich stark ein. Das sollte uns an einem Tag wie heute wieder einmal bewusst werden: Vielerorts scheint die Kraft der Kirche verbraucht, aber sie zeigt ihre Vitalität in Südamerika.
Liebe Zuhörer, keiner von uns weiß, was aus dem Gewebe Kirche in Zukunft wird. Aber ich stimme Roger Schutz zu: Die neue Kirche wird einem Gewebe gleichen, aus dem ein Muster entsteht, einem Gewebe, das ohne Modellzeichnung – mit oder ohne uns – um uns ständig weitergewoben wird.


Pfarrer Stefan Mai

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