Welche Melodie singst du?

Predigtreihe am 4. Fastensonntag zu Skulpturen des Kindergartenteams „Noch Erwartungen an die Kirche?“ anlässlich des 25- jährigen Pfarreijubiläums (Eph 5,15-20; Lk 7,31-35)

In der Domitilla-Katakombe in Rom findet sich ein Fresko mit dem Bild von Orpheus. Von Baumgeäst und Tieren umgeben, hält Orpheus im linken Arm die Leier und in der Rechten das Plektron, das Stäbchen, mit dem er die Saiten anschlägt. Die griechische Sage erzählt: In den Schluchten des Olympgebirges führt sein wundervoller Gesang den Luchs und den Löwen, den Hirsch und die Schildkröte zusammen, Schwärme von Vögeln über seinem Haupt, selbst die Bäume und Steine geraten in Bewegung. Nicht einmal die Unterwelt kann sich seinem geheimnisvollen Gesang verschließen. Als Orpheus seine Frau Eurydike verliert, möchte er die Tote zurückholen und wagt sich ins Totenreich. Und siehe da: Die Bestien der Unterwelt sind von seinem Gesang wie verzaubert und gewähren Orpheus Zugang, die Leidenden im Totenreich vergessen alle Mühsal und Schmerzen, sogar die Totenrichter weinen.

Ein christlicher Künstler aus dem 3. Jahrhundert hat dieses heidnische Motiv auf die Altarwand der frühchristlichen Friedhofsanlage gemalt. Mit dem Motiv des begabten Spielmanns Orpheus stellt der Maler Christus dar. Christus, der das Lied vom Leben singt und die Menschen einlädt, Gottes Melodie anzunehmen und selbst mitzusingen. Berühmte Theologen dieser Zeit deuten das Bild des musizierenden Christus: Christus singt das Lied Gottes, der heilige Geist ist das Stäbchen, das die Saiten der Lyra anschlägt. Und die vielen Saiten am Instrument, das die christliche Gemeinde darstellt, werden in Schwingung versetzt und bringen selbst Töne hervor. „Wenn ihr euch von dieser Melodie Gottes anrühren lasst und in euch aufnehmt“, so predigt Ignatius von Antiochien, „dann werdet ihr alle zusammen zu einem Chor, und in eurer Eintracht und zusammenklingender Liebe ertönt durch euch das Lied Christi.“

- Die Klangskulptur wird angeschlagen -


Kirche und ich? Diesen Titel gab unser Kindergartenteam dem besonderen Klanginstrument unter den Skulpturen, die Erwartungen an unsere Kirche in ein Bild setzen. Es erinnert mich einfach an das Bild in der Domitilla-Katakombe von Orpheus und seiner Lyra. Wie das frühchristliche Katakombenbild lädt auch dieses Klangspiel aus vielen verschieden großen Metallröhren ein, sich anrühren zu lassen, den eigenen Ton zu finden und ihn zu singen. Unsere Erzieherin Claudia schreibt dazu:
„Jedem Menschen gibt Gott mit seinem Leben auch seine eigene Lebensmelodie mit auf den Weg. Diese gibt es zu entdecken und zu singen und sich am gemeinsamen Klang zu erfreuen. Welche Melodie singst du?“
Und um diese Frage zu unterstreichen, befinden sich an der Tonsäule verschiedene Spiegel, in denen ich mein Gesicht erkenne.
Die Sehnsucht vieler Menschen ist heute, den Raum der Kirche als einen Ort zu erleben, an dem ich meine Seele baumeln und meine Gedanken schweifen lassen kann. Die Chance und Erwartung an die Kirche ist, sie als einen Ort „wohltuender Passivität“ zu erleben, wo ich mich zurücklehnen kann, hilfreiche Anstöße bekomme, ein Stück Lebensweisheit höre, die mir hilft, meiner inneren Lebensmelodie, die von soviel Erwartungen, Ansprüchen übertönt wird, auf die Spur zu kommen. Und wir alle spüren: Nur wenn ich diese Lebensmelodie entdecke, gewinnt mein Leben an Farbe, an Tiefe und einer gewissen Leichtigkeit. Ich halte diese Erwartung für berechtigt und ungeheuer wichtig und als Theologe zerbreche mir immer den Kopf darüber, wie kannst du mit deinen Worten und Gedanken dafür heutigen Menschen eine kleine Hilfe sein. Aber zugleich weiß ich: Das macht noch lange keine Gemeinde aus. Eine christliche Gemeinde beginnt erst dann richtig auszustrahlen, wenn Menschen die ihnen zugedachte Melodie Gottes hören, in sich aufnehmen, sie aber nicht nur für sich selbst singen, sondern sie in den Chor einer vielstimmigen Gemeinde einbringen.

Schon im 2. Jahrhundert nach Christus bittet Ignatius die christliche Gemeinde in Ephesus: „Nehmt Gottes Melodie in euch auf. So werdet ihr alle zusammen zu einem Chor, und in eurer Eintracht und zusammenklingender Liebe ertönt durch euch das Lied Christi!“
Und Claudia fragt: „Jedem Menschen gibt Gott mit seinem Leben auch seine eigene Lebensmelodie mit auf den Weg. Diese gibt es zu entdecken und zu singen und sich am gemeinsamen Klang zu erfreuen. Welche Melodie singst du?“

- Die Klangskulptur wird nochmals angeschlagen -


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de