In den Hochzeiten und den Bruchstellen unseres Lebens...

Predigtreihe zu Skulpturen des Kindergartenteams „Noch Erwartungen an die Kirche?“ anlässlich des 25-jährigen Pfarreijubiläums (Mk 9,2-10)

Einleitung – Hintergrund zum Entstehungsprozess der Predigtreihe in der Fastenzeit 2006 mit dem Thema „Noch Erwartungen an die Kirche?“

Zum 25-jährigen Jubiläum unserer Pfarrei St. Maximilian Kolbe hatte das Erzieherteam unseres Kindergartens eine besondere Idee. Als sie hörten, dass dieses Jubiläum nicht das Ziel hat, in der Vergangenheit zu schwelgen, sondern ungeschönt an die Zukunft unserer Gemeinde zu denken und nach der Zukunft der Kirche zu fragen, hat es zusammen mit dem Elternbeirat und den Kindern überlegt, welche Erwartungen Menschen von heute an Kirche und Pfarrgemeinden (noch) haben. Die Antworten lieferten die Ideen zu neun Skulpturen, die dem Pfarrjubiläum am vergangenen Samstag ein besonderes Ambiente gaben und während der Fastenzeit in unserer Kirche stehen.
Hinter jeder Säulendarstellung verbirgt sich ein Wunsch, eine Hoffnung, eine Erfahrung, ein Weg, manchmal auch eine kritische Sichtweise mit Blick auf unsere Kirche. An den Skulpturen sind kurze, begleitende Texte zu finden, die dazu anregen sollen, meine Antwort auf die vielen offenen Fragen um die Zukunft unserer Pfarreien und Kirche zu suchen.
Ich finde in diesen neun originellen Skulpturen viel Stoff zum Nachdenken über die Frage: „Noch Erwartungen an die Kirche?“
In einer Fastenpredigtreihe möchte ich jeden Sonntag eine Skulptur in den Mittelpunkt der Predigt stellen und mit Ihnen über ihre Botschaft nachdenken.

Predigt

Im Jahr 1948 malte Marc Chagall sein Bild „Der Baum des Lebens“. Ein Mann liegt am Boden. In der einen Hand hat er die Farbpalette, in der anderen einen Festleuchter. Und über ihm ein tanzendes Hochzeitspaar, die Braut in weißem Kleid mit einem langen Schleier, der fast bis herunter auf die Erde reicht. Und all dies ist hineingemalt in einen Baum des Lebens, der von unten nach oben wächst. Über einer russischen Kirche spielt ein Mann im Himmel Geige. Ein Himmel, der voller Geigen hängt. Marc Chagall hat mit seinem Lebensbaum den Lebenstraum von Menschen gemalt: Die Sehnsucht nach geglückter Beziehung, die Sehnsucht, dass das Leben farbig und bunt ist, die Sehnsucht nach einer Leichtigkeit des Seins, die das Leben von aller Erdenschwere befreit.

Das Leben könnte doch so schön sein. Diesen Lebenstraum träumen auch die drei Jünger auf dem Berg Tabor. Sie erleben gelungene Kommunikation: „Da erschien vor ihren Augen Elija und mit ihm Mose, und sie redeten mit Jesus“ (Mk9,4). Sie sehen ihren Freund Jesus, den sie oft nicht verstanden plötzlich in einem anderen Licht. Er hat eine ganz besondere Ausstrahlung auf sie und sie dürfen etwas von seinem innersten Wesen schauen. Wie sehr können wir Petrus verstehen: Dieser Traum soll Realität werden, diesem Glücksmoment soll Dauer verliehen werden. Wenn das Auge sehend und das Herz brennend wird, dann darf eine solche Stunde doch nicht vorübergehen, dann möchte man alle Uhren abstellen und die Zeit anhalten. Aber sie werden aus dieser Hochstimmung herausgerissen, können nicht auf dem Berg bleiben. Bald ist die ideale Kommunikation vorbei, das ideale Bild des strahlenden Jesus verschwunden: „Als sie umherblickten, sahen sie plötzlich niemanden mehr bei sich außer Jesus“ (Mk 9,8). Und sie müssen wieder in die Niederungen des Lebens hinabsteigen und bekommen von Jesus in den Leidensansagen klaren Wein eingeschenkt, was der Weg nach Jerusalem bedeutet.

Auf die Bildsäule, die heute neben dem Ambo steht, hat unser Erzieherteam das Bild von Marc Chagall „der Baum des Lebens“ ganz oben als Lebenstraum gesetzt, aber zugleich diesen Lebenstraum nach unten weitergemalt. Die Farben des Lebensbaumes werden nach unten weitergeführt, werden allmählich düsterer und führen hinab zum Fuß der Säule, wo zerbrochene Steine einen mit ihren Bruchstellen, die schwarz angemalt sind und dadurch noch bedrohlicher wirken, entgegenschauen. Eine Stele, die den Traum von einem gelungenen und geglückten Leben malt, die aber zugleich mit den zerbrochenen Träumen und Hoffnungen konfrontiert. Eine Stele, die die Glücksmomente und „Hoch-Zeiten“ eines Lebens ins Bild setzt und zugleich die Tiefpunkte und Bruchstellen des Lebens vor Augen stellt. Und als Kommentar stehen die Worte daneben: Kirche – und die Sehnsucht nach ihrem Segen in den Hoch-Zeiten und den Bruchstellen unseres Lebens.


Mit diesem Satz ist eine Hoffnung, eine Erwartung an eine Kirche der Zukunft verbunden: Sie möge dort präsent sein, wo das Leben pulsiert, dort wo vor Freude und Ergriffenheit Tränen gelacht werden und dort, wo aus Enttäuschung, in Schmerz und Ohnmacht still oder laut geweint wird. Sie wird gebeten, an den Grenzen des Lebens, den Segen Gottes als Weggeleit und unbeirrbares Zeichen seiner Treue zuzusprechen. Mich ergreift immer ein Gebet, das ich gerne bewusst am Tag der Hochzeit, an dem der Lebenstraum wie ein Baum zum Himmel wächst, spreche: „Herr wir bitten um die Gnade, dass wir dich in frohen Tagen loben, in der Trauer bei dir Trost finden, in der Arbeit deine Nähe spüren und in der Not deine Hilfe erfahren.“

Und ich spüre: Unsere Kirchen laden auch heute Menschen dazu ein, Glück und Freude, Trauer und Angst, Unruhe und Aufgewühltsein vor Gott hinzutragen. Die oft uralten Mauern unserer Kirchen strahlen davon etwas aus: Sie sind Räume, in denen Menschen Jahrhunderte hindurch in den Höhepunkten des Lebens dankbar Gott gepriesen und gefeiert haben. Sie sind Rückzugsräume für Menschen, die eigentlich nicht mehr weiter wissen, sich einfach hinter eine Säule setzen und um einen kleinen Hoffnungsschimmer bitten. Die vielen Kerzchen, deren Ruß die Nebenkapellen oft völlig geschwärzt haben, sind eine Landschaft flackernder, zuckender Flammen als Sinnbild für die heißen Bitten, Sehnsüchte und der brennenden Sorge um Angehörige und Freunde, die Menschen hierher getragen haben. Und wie viele erahnen in unseren Kirchen bis heute eine geheime Welt, werden angesprochen durch Bilder, Farben, Schweigen, festliche Gesänge und Orgeltöne.
Und wenn dazu noch Menschen in dieser Kirche zu finden sind, die sich ehrlich mitfreuen und die auch dann nicht ausreißen, wenn es auszuhalten gibt, dann ist Kirche wirklich ein Segen in den Hochzeiten und Bruchstellen des menschlichen Lebens.


Pfarrer Stefan Mai

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