Ich bin die Stimme des Rufers in der Wüste

Predigt zum 65. Priesterjubiläum von Pfarrer i. R. Peter Pretscher (Schrifttexten: Ex 17,8-13; Phil 1,3-11; Mk 1,1-8)

Schwer durch die Bombenangriffe in Mitleidenschaft gezogen, musste man am Dom von Würzburg sofort nach dem zweiten Weltkrieg die ersten Sanierungsmaßnahmen einleiten, wollte man ihn noch retten. Notdürftig wurde das Kirchendach mit Brettern abgedeckt. Zum Richtfest läutete die letzte verbliebene Domglocke in den Westtürmen mit scheppernden Klängen. Aber mit einem dumpfen Schlag endete plötzlich das Läuten der Glocke. Dann war Ruhe. Die metallene Krone war abgebrochen und die Glocke den Turm hinuntergesaust. Die Inschrift auf dieser Glocke hat sich dem damaligen Domkaplan Peter Pretscher tief ins Hirn gegraben. Denn diese Glocke, die als letzte über den Ruinen von Würzburg läutete, trug die symbolschweren Worte: „Ich bin die Stimme des Rufers in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg.“ Noch heute ist diese Glocke im Domkreuzgang zu sehen.

Ich bin die Stimme des Rufers in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg. Ebnet ihm die Straßen! Diese Worte stammen aus dem Mund des kantigen und unbequemen Wüstenpropheten Johannes, der kein Blatt vor den Mund nimmt und den Autoritäten und den einfachen Leuten von Jerusalem knallhart die Leviten liest. Diese Worte sind auch sein Lebensprogramm: Er leiht seine Stimme, seine Lebenskraft einem anderen. Er möchte diesem anderen Wege ebnen, damit er bei den Menschen ankommen kann. Er versteht sich als Hinweisschild. Nicht von mir, sondern von ihm ist das Heil zu erwarten. Das ist sein Auftrag.

Die Lebensaufgabe des Priesters

Ich bin die Stimme des Rufers in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg. Diese Johannesworte sind jedem Priester als Lebensaufgabe ins Stammbuch geschrieben, ganz gleich, in welchen Zeiten und unter welchen Bedingungen er lebt. Jeder hat mit seiner Existenz, mit seinen Fähigkeiten, mit seiner besonderen Art diesen Auftrag, mit menschlichen Worten und Zeichen Gott ahnen zu lassen, Wege zu bereiten, auf denen Gott seinen Weg leichter zu den Herzen der Menschen findet. Jeder Priester, egal jung oder alt, hat diese Würde und Last zu tragen: Ihm darf und muss ich meine Stimme leihen.

Peter, du hattest nicht die Schroffheit des Bußpredigers Johannes, die Angriffslust dieses Wüstenmannes. Und trotzdem scheint mir dieses Johanneswort auch dein priesterliches Lebensprogramm zu umreißen. Du wolltest über 65 Jahre hinweg doch nur eines sein: ein Fingerzeig auf Gott. Immer wieder und wieder auf Gott verweisen und den Menschen von heute vor der Gottvergessenheit bewahren. Täglich neu dazu einladen, ihm die Lebenstür zu öffnen.

Ein Zeugnis der leisen Töne

Deine Art war nicht das laute, auffallende prophetisches Zeugnis. Die Art, wie du deinen Beruf ausgefüllt hast, war ein Zeugnis der leisen Töne.
Deine Stärke waren nicht vom Stuhl reißende Predigten und begeisternde Ansprachen, aber jeder in deinen Gemeinden durfte spüren: Da steht einer hinter dem, was er sagt. Das bewegt ihn selbst und trägt ihn. „Wo sind heute die Stillen im Lande geblieben, die ohne viel Redens von sich zu machen, wirklich im Wort Gottes leben, in ihm atmen, denken und wahrhaft zu Hause sind? Wir haben allzu viele Menschen heute, die reden, die beweisen, dass sie auch gescheit sind und etwas sagen können, etwas Kritisches am besten, womit sie zeigen, dass sie zwar nicht alles wissen, aber alles besser wissen. Aber wir haben zu wenig Menschen, die noch fähig sind, in die Stille zu hören, aus- und einzugehen in Gottes heiligem Wort, sich davon durchdringen und durchtränken lassen, so dass es wirklich zu ihrem Brot wird.“ Diese Art, nach der Papst Benedikt schon vor 30 Jahren gefragt hat, ist deine Art.
Dein Anliegen war nicht, mit großen spektakulären und um Beifall heischende Aktionen auf Gott aufmerksam zu machen, deine Art war die stille durchgehaltene Treue im Gebet. Deine Überzeugung war immer: Es kommt nicht so sehr auf meine Glanzleistungen an, sondern auf den langen Atem des Gebetes. Es kommt nicht so sehr auf das an, was ich vollbringe, sondern auf das, was ich im Gebet vor Gott bringe.
Unvergesslich bleibt mir aus der Zeit als Kaplan in Aschaffenburg. Wenn ich spätabends noch am Schreibtisch saß und mir möglichst kreative Dinge ausdachte, da ging jeden Tag noch einmal um halb elf die Pfarrhaustür auf, egal welches Wetter es war, und der Pfarrer von Herz Jesu ging hinüber in den Kindergartenhof. Dort drehte er zum Abschluss des Tages still mit dem Rosenkranz in der Hand seine Runden und betete. „Wie beruhigend ist es, zu wissen, dass es einen gibt, der jeden Tag noch einmal die Sorgen und Nöte, die Anliegen und Hoffnungen der Menschen aus unserer Gemeinde zu Gott hinträgt und sie im Gebet Gott anvertraut,“ meinte damals eine Frau, die ihn oft von ihrem Zimmer aus bei seinen Gebetsrunden zuschaute. Und ich bin überzeugt, dass er auch in Hollstadt am Abend hinter dem Pfarrhaus die Menschen unten im Dorf Gott auch heute noch jeden Tag ans Herz legt in der Art des Apostels Paulus, der in der heutigen Lesung meint: „Ich danke meinem Gott jedes Mal, wenn ich an euch denke, immer, wenn ich für euch alle bete, tue ich es in Freude...“
Unvergesslich bleibt mir, wie Pfarrer Pretscher vor 20 Jahren am letzten Tag in Aschaffenburg, nachdem der Umzugswagen abgefahren war und sein Auto schon reisefertig vor der Tür stand, noch einmal in seine geliebte Herz Jesu Kirche ging, noch einmal eine Zeit lang im stillen Gebet verharrte, bevor er unter dem Geläut der Herz Jesu Glocken nach Hollstadt abfuhr.
Und ich spürte beim Besuch meines ehemaligen Chefs nach seinem Schlaganfall in Bad Neustadt, wie er davon erzählte, dass er sich mit seinem geliebten Brevier immer in die Krankenhauskapelle setzt und laut mit den Psalmen wieder seine angeschlagene Sprache übt: Da trägt einen Menschen das Gebet, was er – ähnlich wie die Glocke – im eisernen Rhythmus Zeit seines Lebens ernst genommen hat und wovon er still und bescheiden, meist ganz unauffällig und im Hintergrund Zeugnis geben wollte.

Das geistliche Testament des Jubilars

Lieber Peter,
vor 14 Tagen waren wir aus Schweinfurt mit 70 siebzehnjährigen Firmbewerbern in Münsterschwarzach. Ich wollte ganz bewusst diese jungen Menschen an bestimmten Orten der Abteikirche die besondere Gebetsatmosphäre suchen und erspüren lassen: in der Weite und Höhe der Kirche, in den burgartigen Mauern, vor dem Tabernakel, in der Gebetsnische mit den viele flackernden Kerzen. Da fiel auf dem Weg zur Krypta mein Blick auf einen alten Gebetsstuhl. Es war ein Gebetsstuhl mit dunkelrotem Samt. Der Samt auf der Kniebank war schon ganz abgeschossen und abgekniet und ebenso der Samt auf der Armlehne. In den roten Samt waren zwei Knie ausgebeult und auf der Armlehne hinterließen die aufgelegten Arme der vielen Beter, die auf diesem Betstuhl im Lauf von Jahrzehnten gebetet haben, deutlich ihre Spuren.
Für mich war dieser abgebetete Betstuhl wie ein stummer und doch sprechender Zeuge. Er machte mir klar, was du mir als deinen letzten Kaplan vorgelebt und als guten Rat ohne Worte und ganz unaufdringlich mit auf den Weg gegeben hast:
Wer sich in Gott hineinkniet und sich auf ihn stützt, der wird von ihm gehalten.
Wer Gott seine leeren Hände im Gebet hinhält, dem reicht er die Hand.
Wer Menschen mit ins Gebet hineinnimmt, der trägt sie im Hintergrund mit.
Wer sich im Gebet Gott zuwendet und seine Nähe sucht, der wird erfahren, dass Gott auf diesem Weg ihm entgegenkommt.

Für dieses stille und glaubwürdige Zeugnis danke ich dir und Gott mit vielen Menschen heute von Herzen. Wir bitten dich auch weiterhin um dein Gebet. Und ich hoffe, dass die Menschen, die du in dein Gebet eingeschlossen hast, deiner im Gebet nicht vergessen, wenn deine Stimme einmal verstummt und dein Geist versinkt.


Pfarrer Stefan Mai

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