Eigentlich

Predigt zum Aschermittwoch 2006

Sprache ist verräterisch. Besonders Floskeln, die gerne verwendet werden. Sie werden einfach dahergesagt, ohne viel zu denken. Sie werden aber nicht so genommen, wie sie gemeint sind und verpuffen deshalb schnell wie Schall und Rauch und zeigen keinerlei Auswirkung auf das tägliche Leben. Ein besonderes Paradebeispiel für eine leicht daher gesagte Floskel ist das Wort „eigentlich“.

Eigentlich würde es mir gut tun, das Auto öfter stehen zu lassen und ein paar Schritte laufen...
Eigentlich möchte ich die Feierabende sinnvoller und kreativer gestalten und nicht nur vor dem Fernseher auf dem Sofa flacken und von einem Programm aufs andere zappen ...
Eigentlich wollte ich schon lange wieder einmal ein gutes Buch lesen und mich zu neuen Gedanken anregen lassen ...
Eigentlich müsste ich abnehmen. Jetzt bin ich so Mitte 50 und muss schon schnaufen, wenn ich mich bücke und die Schnürsenkel binde ...
Ich spüre deutlich, wie mein religiöses Leben verflacht und versteppt. Eigentlich habe ich mir vorgenommen, mir täglich ein paar Minuten regelmäßig Zeit zu nehmen und mit Gott beim Autofahren, Zeitungslesen, beim Aufstehen oder beim Schlafenlegen ins Gespräch zu kommen ...
Eigentlich würde es meinen Kindern gut tun, wenn ich mich ein Mal in der Woche bewusst am Abend für sie Zeit nehmen würde, zwanglos mit ihnen spielen und plaudern würde ...
Eigentlich sollte ich meinen Arbeitskollegen darauf ansprechen, warum er in der letzten Zeit gegenüber mir so anders ist als früher ...
Eigentlich sollte ich es mir aufschreiben, was ich mir in dieser Woche fest vornehme. Nägel mit Köpfen machen, anstatt die Sache, die zu erledigen wäre, wieder auf die lange Bank zu schieben und am Ende mit dem Gefühl eines Drückebergers in die neue Woche hineinzugehen...
Eigentlich wollte ich meiner Frau schon lange einmal sagen, was ich an ihr gut finde ...
Eigentlich sollte ich mir selbst ganz bewusst etwas Gutes gönnen und mich nicht andauernd antreiben lassen und noch schnell dies und jenes tun ...
Eigentlich möchte ich ganz bewusst ein gutes Essen zelebrieren und genießen, anstatt die besten Häppchen einfach zu verschlingen, als wäre das alles selbstverständlich ...

Heute ist wieder einmal Aschermittwoch und viele Menschen sagen sich zu Beginn der Fastenzeit: Eigentlich möchte ich, eigentlich sollte ich, eigentlich müsste ich...
Es ist ein guter Ratschlag, gerade für die Fastenzeit, den die bekannte Krankenhausseelsorgerin Sabine Naegeli einmal gegeben hat:

Eigentlich
sollte ich das Wort Eigentlich
streichen
um am Ende
nicht sagen zu müssen
Eigentlich hätte ich
leben wollen


Pfarrer Stefan Mai

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