Werde du selbst!

Predigt zum 4. Sonntag im Jahreskreis (Mk 1,21-28)

Die erste Wundergeschichte, die von Jesus erzählt wird, ist die Heilung eines Besessenen. Irgendwie ist einem mulmig dabei. Besessenheit, das riecht nach Dämonen, bösen Geistern, Exorzisten, schreienden und durchgedrehten Menschen, verzerrten Gesichtern, Beschwörungs-szenarien, nach Teufelsaustreibung. Am liebsten würde man gleich das Thema wechseln.
Und doch bleibt es dabei. Das erste Wunder, das von Jesus erzählt wird, ist eine Besessenenheilung. Und unter den Wundern Jesu gibt es gleich vier davon. Das heißt: Der Großteil der Wundererzählungen sind Heilungen von Besessenen. Und wenn wir genauer hinschauen, dann merken wir: Besessenheit ist nicht nur ein Krankheitsbild eines überholten Weltbildes, sondern ein ernst zu nehmendes Phänomen unserer Zeit. Schnell spüren wir: So fremd ist uns auch heute nicht, was mit Besessenheit gemeint ist. So grundverschieden sind die Phänomene, um die es bei der Besessenheit geht von unseren Erfahrungen nicht.

Bin ich eigentlich ich selbst? So mancher von uns hat sich diese Frage schon einmal gestellt. Wer von uns weiß nicht, wie schwer es ist, wirklich aus der eigenen Meinung keinen Hehl zu machen, wenn um mich herum ganz anders gedacht und geredet wird. Wie schnell denkt man über das Thema, der Politiker, den Kirchenmann so, wie ich es in der Zeitung lese?
Wie schnell nisten sich Vorurteile über bestimme Gruppen der Gesellschaft in den Köpfen und Herzen ein, obwohl wir kaum sonst diesen Menschen begegnen. Und diese Vorurteile blockieren dann derart, dass man gar nicht mehr richtig hinhört und hinschaut.
Wie schnell stellen wir unseren Modegeschmack um, wenn wieder ein neuer Frühlingstrend oder die neuen Herbstfarben angepriesen werden und ein besonderes Lebensgefühl verheißen?
Wie schnell rede und handle ich so, wie es andere von mir erwarten und bin durch viele Rücksichten wie lahm gelegt und fremd bestimmt. Machen Sie nur einmal den Test und stellen Sie sich die Frage: Sie könnten einen Tag unsichtbar sei, was täten Sie...? Sie hätten plötzlich den Mut, etwas zu tun, was Sie sich noch nie getraut haben. Was täten Sie...?

Eines wird mir an den alten Geschichten, die erzählen, wie Jesus Besessene heilt, klar: Das Reich Gottes, das Jesus verkündet, ist für in dort im Kommen, wo Menschen lernen, sie selbst zu sein, zu sich selbst stehen, den anderen nicht nach den Mund reden, ihr Verhalten nicht fremd bestimmen zu lassen. Entsprechend geht Jesus auf die fremd bestimmten Menschen zu. Er behandelt sie nicht als Heilungsobjekte. Er spricht sie an, kämpft mit ihnen, fragt nach ihren Namen und verhilft ihnen so, ihre eigene Meinung, ihre eigene Sprache, ihre eigene Geschichte wieder zu finden.

Nein, die Besessenenheilungen der Evangelien sind nicht Geschichten aus der Gruselkiste oder exotischen Märchenkiste. Sie treffen den Nerv des Lebens. Sie sagen mir: Mein Glaube möchte mir helfen, zu mir selbst zu stehen, an das Gute und an die Kräfte in mir zu glauben. Er möchte mir helfen, das Original in mir zu entfalten und nicht als billige Kopie von Meinungsmachern zu enden.


Pfarrer Stefan Mai

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