Der Weg aus der Krise

Predigt zum 2. Sonntag im Jahreskreis ( 1 Sam 3,1-19)

Wie Hammerschläge wirken sie auf mich, die zwei kurzen Sätze zu Beginn der heutigen Lesung: „In jenen Tagen waren Worte des Herrn selten; Visionen waren nicht häufig.“ Diese eindringlichen Worte bringen das Glaubenstief eines ganzen Volkes auf den Punkt.
In jenen Tagen waren die Worte des Herrn selten: Das Wort Gottes reißt nicht mehr vom Stuhl. Es hat wenig Anziehungskraft auf die Menschen und ist verstummt. So viele Wörter reizen das Ohr. Wie sein Wort noch hinter den Wörtern heraushören? Die Sehnsucht nach diesem Wort und die Sensibilität für dieses Wort ist verloschen.
Visionen waren nicht häufig: Der Glaube beflügelt nicht mehr, weckt in Menschen keine Lebensträume. Die Ratlosigkeit ist groß. Keine Ideen, die mitreißen, keine Ideen, die neuen Aufschwung bringen.
Und mitten in diesem depressiven Glaubensmilieu verrichtet Eli, der alte Priester am Heiligtum in Schilo, seinen Dienst wie eh und je. Aber er hat den Laden nicht mehr in Griff. Seine beiden Söhne sind Luftikusse und nutzen das Priesteramt am Tempel nur für sich aus. Eli meint es gut, aber er blickt in den ganzen Machenschaften um ihn herum nicht mehr durch: „Seine Augen waren schwach geworden, und er konnte nicht mehr sehen“, heißt es.
Da ist es nur ein schwacher Trost zu hören: „Die Lampe Gottes war noch nicht erloschen“. Sicher, der Betrieb läuft noch, die Geräte funktionieren, noch ist das Licht an. Aber wie lange noch? Man hört schon durch: Der letzte macht das Licht aus. Es sieht finster aus. Was ist nur los?

Wie aktuell sind diese alten Worte aus der Geschichte Israels für uns. Vor dreitausend Jahren geschrieben, reichen sie herein in unsere Zeit. Ja, sie fassen auch unsere Glaubenssituation wie in einem Brennglas zusammen: Der Betrieb läuft zwar noch. Das ewige Licht brennt noch in unseren Kirchen. Der technische Apparat in den Leitungszentralen und Pfarrbüros funktioniert. In vielen Pfarrhäusern ist noch das Licht an. Aber manchmal hört man schon durch: Wann macht der letzte das Licht aus?
Mächtig steigen Fragen auf und ohnmächtig stehen wir ihnen gegenüber. Wie kommt das nur? Entzieht sich Gott unserer Kirche? Will er uns vielleicht zeigen, dass es andere Strukturen braucht, damit der Glaube wieder neu Fuß fassen kann? Oder liegt es an uns? Sind wir zu abgestumpft worden? Macht unsere ganze Television die Glaubens-visionen kaputt? Sind wir religiös unmusikalisch geworden?

Die alte Samuelgeschichte stellt ernste Fragen, sie zeigt aber auch verdeckt einen Weg aus der Krise: Die Initiative ergreift schließlich Gott selbst. Und trotz aller Schwierigkeiten kommt sein Wort durch. Ein junger Mensch mit Namen Samuel hört das Wort Gottes im Schlaf, d. h. im Unbewussten. Er kann es noch nicht so recht deuten. Aber es lässt ihn nicht mehr los. Und Samuel geht zu Eli, dem alten Priester, der ansonsten keine glückliche Figur macht. Aber dieser alte Mann nimmt den jungen Samuel ernst und lässt sich auf ihn ein. Aus seiner Lebenserfahrung und Kenntnis der Tradition, die oft erzählt, wie Gott in das Leben von Menschen eingreift, spürt er: Diese Unruhe, die Samuel bewegt, hat mit Gott zu tun. Er selbst hört den Ruf Gottes nicht mehr, aber er verhilft dem jungen Samuel, ein offenes Ohr für Gottes Ruf zu entwickeln. Er ermutigt Samuel, in Geduld auf diese innere Stimme zu hören und lehrt ihn, richtig einzuordnen, was ihn so unruhig macht.

Liebe Leser, diese alte Samuelgeschichte lehrt mich eines: Es gibt einen Weg aus der Glaubenskrise eines Volkes, einer Kirche. Der Weg aus der Krise beginnt dort, wo die Alten den jungen Menschen die Sehnsucht nach Gott noch zutrauen – und wo die Jungen zu den Alten das Vertrauen haben, ihnen bei der Deutung des Erlebten noch helfen zu können.


Pfarrer Stefan Mai

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