Der zerrissene Himmel

Predigt zur Taufe Jesu (Mk 1,7-11)

An großen Filmen fällt mir immer wieder auf: Die Anfangsszene des Films und die Schlussszene stehen miteinander in Bezug. Oft versteht der Betrachter erst durch die Schlussszene die verschlüsselte Botschaft der Eingangsbilder. Anfangs- und Schlussszene spannen einen Rahmen um den ganzen Film und verdichten in ihren Bildern die Botschaft des Films auf eindrucksvolle Weise.
Der Evangelist Markus liebt diese Technik der Darstellung eines Geschehens. Wie ein guter Filmregisseur legt er sein Evangelium an. Ein Zerreißen am Anfang seines Evangeliums, ein Zerreißen am Ende. Am Anfang, bei der Taufe Jesu: der zerrissene Himmel. Und am Ende, beim Tod Jesu,:der zerrissene Vorhang des Tempels. Was drücken diese Zerreiß-Szenen aus?

Der Evangelist leiht sich das Sprachbild vom Aufreißen des Himmels beim Propheten Jesaja. Er greift auf ein eindringliches Gebet zurück, in dem der Prophet Gott viele Klagen, Traurigkeiten, Hoffnungslosigkeiten entgegenhält. Verzweifelt fragt er Gott: Hast du denn den Menschen vergessen? Hast du ihn in seinem Wahn selbst überlassen? Warum wendest du uns dich nicht zu und lässt nichts von deiner Nähe spüren? Warum lässt du den Himmel verschlossen und zeigst dich nicht? Auf dem Höhepunkt des Klagegebets dann dieser Schrei: „Reiß doch den Himmel auf, und komm herab, so dass die Berge zittern vor dir!“ (Jes 63,19).

Bei der Taufe Jesu heißt es: „Und als er aus dem Wasser stieg, sah er die Himmel sich zerreißen und den Geist wie ein Taube auf ihn herabkommen. Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich mein Gefallen gefunden“ (Mk 1,10f).
Es ist als hätte sich bei der Taufe Jesu der Wunsch des Propheten erfüllt: Gott lässt sich in diesem Jesus wieder spüren, Gott ist in diesem Jesus zu hören. Die Kommunikation zwischen Himmel und Erde ist in diesem Jesus hergestellt. Durch diesen Jesus ist der Blick zu Gott ermöglicht. In den Worten Jesu kannst du die Stimme Gottes vernehmen und in den Taten Jesu kannst du sehen, was Gott wichtig ist und wie er mit Menschen umgeht. Mit diesem Bild öffnet der Evangelist Markus den Vorhang für das Geschehen seines Evangeliums.


Und dann das Ende. Der Erfolg für das Bemühen Jesu, Menschen für seine Ideen zu begeistern, mit ihnen zu leben, wie Gott sich ein menschliches Miteinander vorstellt, ist eine grausame Quittung: Man legt Jesus für sein Bemühen aufs Kreuz. Und dann bei der Schilderung des Todes begegnet uns das Verb „zerreißen“ ein weiteres Mal. Es heißt: „Jesus aber stieß einen lauten Schrei aus und verschied. Da zerriss der Vorhang im Tempel von oben bis unten entzwei“ (Mk 15,38).
Dieser schwere Tempelvorhang hing am Eingang des Allerheiligsten, der eigentlichen Wohnstätte Gottes. Der „verhüllende Vorhang“ wurde er genannt. Als einziger durfte der Hohepriester einmal im Jahr, am Versöhnungstag, diesen heiligen Raum der Anwesenheit Gottes betreten. Das Volk und die Priester durften diesen Raum nie schauen. Wenn nun im Markusevangelium beim Tod Jesu dieser Vorhang zerreißt, und somit ein Blick in den Raum hinein möglich ist, dann bedeutet das: In diesem gekreuzigten Jesus, der in seinem Sterben den Himmel nicht mehr offen sah, zeigt sich Gott selbst unverhüllt für alle Menschen. Der zerrissene Himmel am Anfang des Evangeliums, den Jesus nur selbst sieht, ist wie eine große szenische Vorbereitung auf das Zerreißen des Tempelvorhangs: In diesem Gekreuzigten haben alle Menschen Zugang zum verhüllten Gott.

Liebe Leser! Ich habe den Eindruck, wir Christen vergessen diese hammerharte Botschaft des Evangelisten Markus mehr und mehr. Die Sehnsucht, den verborgenen und verhüllten Gott zu erfahren, dass der Himmel zerreißt, dass ich mit Gott in Verbindung stehe und aus dieser Verbindung erfüllt und zufrieden lebe, ist auch heute groß. Aber die Bereitschaft, sich wirklich vom Lebensstil Jesu begeistern zu lassen und in den Spuren Jesu zu gehen, egal ob mir dies gedankt wird oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Und doch besteht nach Markus gerade darin das Spezifikum unseres christlichen Glaubens: In der Lebensart Jesu enthüllt sich Gott. Dies bleibt die dauernde Zerreiß-Probe für uns Christen.


Pfarrer Stefan Mai

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