Mit Mozart im Taxi durchs Jahr 2005 fahren

Predigt am Silvesterabend 2005

(Klarinettenkonzert A-Dur KV 622, 2. Satz: Adagio)

Eric-Emmanuel Schmitt schreibt in seinem Buch an Mozart:
Lieber Mozart, seltsam, was dir da gerade geglückt ist. Du hast mich mit einer traurigen Musik in meiner Traurigkeit getröstet.
Und was für einen merkwürdigen Boten du dazu ausersehen hast! Ich wusste gar nicht, dass es Engel gibt, die sich in einen schwarzen Riesen am Steuer eines verrotteten Autos verwandeln können.
Als ich das Krankenhaus um 20 Uhr verließ und ein leeres Taxi am regennassen Straßenrand sah, stürzte ich mich sofort hinein, nicht um schneller nach Hause zu kommen, denn mir graut vor der leeren Wohnung, sondern um die endlose Fahrt mit der Metro zu vermeiden, diese Stationen mit ihrer immer gleichen Abfolge und ihren immer gleichen Namen, diese unbeschwerten, von meinem Kummer unberührten Reklameplakate, dieses erbarmungslos grelle Licht auf den müden Gesichtern, diese für mich viel zu engen Sitzschalen, diese Gerüche nach alten Körpern, die dem Tag nichts abgewinnen konnten.
Der Taxifahrer, ein Afrikaner mit voller Stimme und gewaltigem Brustkorb, der fast die ganze Blechkiste einnahm, fragte mich, ob ich etwas gegen Musik hätte. „Hängt davon ab, was Sie auflegen“, antwortete ich und war auf Jazz oder Raggae gefasst. „Ich leg’ eine CD auf, die mir ein Fahrgast dagelassen hat.“ „Wie Sie wollen.“ „Wenn’s Ihnen nicht gefällt, mach ich aus.“
Mit seiner Riesenpranke, in der sich das Steuer seines Vehikels wie ein Miniaturmodell für Kinder ausnahm, drückte er auf einen Knopf, und plötzlich warst du da, um die Fahrt mit uns fortzusetzen.

Klarinettenkonzert A-Dur

Eric-Emmanuel Schmitt lehnt sich zurück und denkt sich: Ich bin in der gleichen Stimmung wie diese Klarinettenmusik: traurig, niedergeschlagen. Aber Mozart will mir mit seiner Musik sagen: Gib deiner Niedergeschlagenheit nicht nach. Hör auf die Klarinette, wie sie sich erhebt, wie sie singt, wie sie sich entfaltet, wie Traurigkeit sich in Schönheit verwandeln kann.
Liebe Leser, lassen Sie sich am Silvesterabend einmal mit Mozart im Taxi durch das alte Jahr 2005 fahren. Denken Sie an die verschiedenen Stationen des Jahres,
an Gesichter, die ihnen hängen geblieben sind,
an frohe Tage.
Lassen Sie aber auch die traurigen Stunden hochkommen
– und vergessen Sie dabei nicht, auf die Klarinette zu hören: die das Traurige zulässt, aber sich nicht zu Boden drücken lässt und in einer heiteren Traurigkeit das Leben annimmt, wie es ist …

Klarinettenkonzert A-Dur (bis zum Ende)

Gebet

Herr unser Gott,
auf der Fahrt durch das Jahr 2005 sind wir fast am Ende angekommen. Wir haben vieles getan, erlebt, erlitten.
Wir danken dir für alle guten Stunden, die uns geschenkt wurden,
für alle Erfolge, die wir feiern durften,
für alles, was unser Leben schön gemacht hat.
Lass uns auch Ja sagen können zu allem, was schwer auf unserem Herzen liegt, was uns weh getan hat.
Lass uns annehmen können, was wir nicht ändern können.
Lass uns getröstet und in Frieden Abschied nehmen von diesem Jahr und zuversichtlich in neue gehen.

Musik bis zum Ende


Pfarrer Stefan Mai

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