Ein Türöffner für Gott – Der Raum der Leere

Predigt zum 4. Adventssonntag (Lk 1,26-38)

Wir hören zu viel. Wir sehen zu viel. Zu viele Geräusche dringen täglich an unser Ohr. Zu viele Bilder und Eindrücke nehmen unsere Augen täglich auf oder besser gesagt, huschen an ihnen vorüber. Wir hören zu schnell und wir sehen zu schnell. Immer schwerer fällt es, auf einzelne Melodien oder Worte zu lauschen, sie auf sich wirken zu lassen. Die bevorzugte Hörart ist die Dauerberieselung. Immer schwerer fällt es, genau hin zu schauen, sich mit einem einzelnen Bild länger zu beschäftigen, es auf sich wirken zu lassen.
Machen wir einen Test. Fällt Ihnen das Entscheidende am Verkündigungsbild von Konrad Witz auf, das er im Jahr 1440 gemalt hat?

- „Verkündigung“ von Konrad Witz –

Konrad Witz lässt das Geschehen des heutigen Evangeliums zwischen Maria und dem Engel Gabriel in einem ganz ungewöhnlichen Raum spielen. Auffällig ist nicht, dass es sich um eine Wohnstube des 15. Jahrhunderts handelt. Das ist sogar typisch für die Malerei des Spätmittelalters. Auf diese Weise wollte man das biblische Geschehen in die Gegenwart holen, aus der alten Geschichte eine Geschichte für heute werden lassen, den Betrachter des Bildes in das Geschehen von damals hinein nehmen.
Haben Sie den entscheidenden Interpretationsschlüssel zu diesem Bild entdeckt?

Die Stube ist leer! Da ist absolut nichts: keine Möbel auf dem Dielenboden. Nicht einmal ein Stuhl für Maria. Keine Lampe an der Balkendecke, kahle Wandflächen. Wie leergefegt! Was soll das? Nein, Maria war auf diesem Bild nicht so arm, dass sie sich keine Möbel hätte leisten können. Dazu würde das schöne, faltenreiche Gewand mit der Goldborte nicht passen. Welche Aussage steckt also hinter diesem leeren Raum?
Das Bild versucht eine Antwort zu geben auf die Frage: Wie kann ich etwas von Gott erfahren, ihm begegnen, seine „Stimme“ hören? Konrad Witz gibt mit seinem Bild eine provozierende Antwort. Die „Leere“ ist eine wichtige Voraussetzung. Er ist überzeugt: Allzu viel im menschlichen Leben steht der Wahrnehmung der „Sprache Gottes“ entgegen: Besitz und Macht, aber auch die Enge von Begriffen, Vorstellungen und Bildern, die wir uns von Gott gemacht haben. Konrad Witz scheint in die Verkündigungsgeschichte ein Psalmwort einzuarbeiten, das die spätmittelalterliche Frömmigkeit sehr prägte: Vacate et videte quoniam ego sum deus. Werdet leer und seht, dass ich Gott bin!
Konrad Witz malt uns mit seinem Bild die Botschaft vor Augen: Der Leere – auf der Ebene des Sehens die Bildlosigkeit – entspricht auf der Ebene des „Hörens“ das Schweigen und die Stille. Diese Leere braucht der überfüllte und angefüllte Mensch, der in vollgestopften Räumen lebt wieder neu, um Gott auf die Spur zu kommen. Der Mensch, der etwas von Gott erfahren will, braucht visuell und akustisch beruhigte Räume. Vielleicht muss uns im wahrsten Sinn des Wortes manchmal „Hören und Sehen vergehen“, damit Gott neu zu uns sprechen kann. Der Dichter Angelus Silesius bringt diese Worte in die Überzeugung:

Geh hin, wo du nicht kannst;
Sieh, wo du siehest nicht.
Hör, wo nichts schallt und klingt,
so bist du, wo Gott spricht.


- Bild des leeren Raums unseres Kindergartens an die Wand werfen -

Am vergangenen Donnerstag war unser Bischof Friedhelm Hofmann bei uns im Kindergarten und hat den Raum der Leere eingeweiht. Vielleicht verstehen Sie auf dem Hintergrund des mittelalterlichen Verkündigungsbildes von Konrad Witz besser den Sinn dieses besonderen Raumes. Kinder brauchen wie wir wieder mehr visuell und akustisch beruhigte Räume, um im Stillewerden, im Hören und Lauschen, im Betrachten und Staunen, etwas vom großen Geheimnis, das keiner gesehen und keiner je gehört hat, zu erahnen und die Sehnsucht nach ihm zu wecken.

(Die Sehhilfe zum Verkündigungsbild von Konrad Witz verdanke ich Herbert Fendrich, Glauben und Sehen, S. 46-50)

- Kanon singen „Schweige und höre, neige deines Herzens Ohr. Suche den Frieden.“ -


Pfarrer Stefan Mai

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