Ein geheimnisvoller Schimmer

5. Rorate - 13.12.2005

Im Adventskalender „Andere Zeiten“ erzählt Henning Kiene von einem besonderen Brauch, den es früher auf der Nordseeinsel Amrum gab:

„Am Heiligen Abend blieben die Türen der Amrumer Kirche weit geöffnet. Das Kerzenlicht leuchtete ins dunkle Dorf, über die Dünen bis zur Nordsee.
Man fror in der Kirche, aber man stellte sich vor, dass die Männer draußen auf See das heimatliche Weihnachtslicht sehen könnten. Warum sollten die Kerzen ihr zartes Licht nicht weit über die Meere schicken? War es doch Gott gelungen, zu Weihnachten die Welt durch sein Menschenkind zu erleuchten.
In den Gedanken der Insulaner erreichte das Licht die Südsee und leuchtete den Männern auch am Kap der Guten Hoffnung entgegen. Weihnachtslicht strahlt bis in den letzten Winkel der Welt.
Und die Männer auf See? Menschen suchten in der dunklen Nacht am Horizont sehnsüchtig ein Licht, und sie meinten, das Flackern der Kerzen in ihrer Kirche zu Hause sehen zu können. Die Türen standen ja offen.“

Dieser Brauch ist auf Amrum inzwischen in Vergessenheit geraten. Aber für mich drückt dieses Licht der Amrumer Kirche, das ins Dorf und über die Dünen bis zur Nordsee schimmert, eine Hoffnung aus: Vielleicht geht auch heute noch von unseren Kirchen ein geheimnisvoller Schimmer aus. Vielleicht sehnen sich auch heute Menschen in unseren bewegten Zeiten nach einem Licht der Orientierung. Vielleicht zieht es Menschen nach wie vor zu diesem Geheimnis Gott hin, von dem unsere Kirchenräume etwas ausstrahlen möchten, aber wir, die wir diese Räume bewohnen, verstehen es nicht gut genug, die Türen zu öffnen und Menschen neugierig zu machen für diesen Schimmer des Geheimnisses.

Diese Sehnsucht der Menschen, etwas vom Geheimnis Gottes in unseren Kirchen zu entdecken, drückt für mich der Dichter Georg Trakl mit dem Gedicht „Ein Winterabend“ schon aus dem Jahr aus:

Wenn der Schnee ans Fenster fällt,
Lang die Abendglocke läutet,
Vielen ist der Tisch bereitet
Und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;
Schmerz versteinerte die Schwelle.
Da erglänzt in reiner Helle
Auf dem Tische Brot und Wein.


Pfarrer Stefan Mai

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