Vom Geheimnis fasziniert

Predigt zum 3. Adventssonntag 2005 (Joh 1,6-8.19-28)

Ein Märchen erzählt: Ein Mann hatte viele Kühe. Morgens trieb er sie auf die Weide, und abends trieb er sie zurück in den Stall. Er molk seine Kühe und freute sich über die viele Milch. Einmal aber, als er morgens in den Stall kam, gab keine Kuh auch nur einen einzigen Tropfen Milch. Auch am nächsten und am übernächsten gaben die Kühe keine Milch.
Jemand muss sie heimlich melken, dachte der Mann. An diesem Abend versteckte er sich neben der Stalltür und wartete. Es wurde dunkler und dunkler, die Sterne gingen auf und leuchteten immer heller. Auf einmal senkte sich eine Strickleiter aus geflochtenen Strahlen von den Sternen herab. Auf der Leiter stiegen Mädchen herunter, eines nach dem anderen. Die Sternenmädchen gingen in den Stall und fingen zu kichern und zu singen an. Dann setzte sich jedes zu einer Kuh und molk die Kuh ohne Eimer.
Als der Mann das sah, wurde er zornig. Er sprang auf die Sternenmädchen los und wollte sie fangen und schlagen. Aber die Sternenmädchen waren viel zu flink. Sie huschten dahin und dorthin, sie kicherten und sangen. Dann liefen sie zurück zur Leiter und kletterten zurück in den Himmel. Ein einziges Mädchen war nicht flink genug. Der Mann packte es an den Haaren und ließ es nicht mehr los. Die anderen Mädchen bemerkten nicht, dass eines von ihnen noch auf der Erde war, und zogen die Strickleiter ein.
Das gefangene Mädchen war so schön, dass der Mann allen Zorn vergaß. „Willst du meine Frau werden?“ bat er. „Ja ich will deine Frau werden“, sagte das Mädchen. „Du musst aber versprechen, dass du nie in mein Körbchen hineinschaust!“
„Was für ein Körbchen?“ fragte der Mann. Kaum hatte er das gefragt, sah er, dass das Sternenmädchen einen kleinen Korb am Arm trug. „Ich bin nicht neugierig“, sagte er, „und ich werde gewiss nie hineinschauen.“ Da wurde sie sein Frau.
Monate vergingen, und der Mann vergaß allmählich, was er versprochen hatte. Das kleine Körbchen war kunstvoll geflochten und hatte einen Deckel, der ganz fest saß. Der Mann sah das Körbchen Tag für Tag und wurde plötzlich neugierig, was drinnen war. Er sagte aber kein Wort davon.
Einmal als die Frau nicht daheim war, hob er den Deckel des Körbchens und schaute hinein: Der Korb war leer!
Bald darauf kam seine Frau und sagte traurig: „Du hast in das Körbchen geschaut!“
„Dummes Ding!“ antwortete der Mann. „Warum hätte ich hineinschauen sollen? Es ist doch gar nichts drinnen.“
Da sah ihn die Frau lange an, dann wandte sie sich um und ging fort. Der Mann hat sie nie wieder gesehen. Die Sternmädchenfrau war in den Himmel zurückgekehrt.
(Aus: Käthe Recheis/Friedl Hofbauer, 99 Minutenmärchen)

Hüte dich davor, das Geheimnis eines Menschen zu knacken, so die Botschaft dieses Märchens. Du verlierst ihn dabei. Wenn du ihn ganz und gar durchschauen willst, entzieht er sich dir. Oft möchten Menschen in ihre Kinder, in ihre Partner, in Eltern und Freunde hineinschauen, um Klarheit zu haben. Oft wünschten sie sich einen Reißverschluss an der Brust des anderen, den sie einfach aufmachen könnten, um zu sehen, was da drinnen wirklich vorgeht, um besser mit dem anderen umgehen zu können. Die Geschichte aber mahnt: Respektiere das Innerste Geheimnis eines Menschen, denn das ist es doch gerade, was dich an diesem Menschen unruhig bleiben lässt und dich ihn ständig neu suchen lässt. Oft leiden Menschen darunter und sagen: Jetzt leben wir schon so lange unter einem Dach zusammen, essen miteinander, schlafen zusammen, verbringen die meiste Zeit des Lebens miteinander, aber was weiß ich schon von ihm, von ihr. Er, sie bleibt ein abgrundtiefes Geheimnis. Aber ob es nicht das Geheimnis ist, das immer wieder neue Seiten an ihm, an ihr entdecken lässt und so die Beziehung spannend hält.

Gerne wären sie seinem Geheimnis auf die Spur gekommen. Sie spürten: Dieser Mann in der Wüste – Johannes mit Namen – hat ein gewisses etwas. Trotz seiner Fremdartigkeit ging von seiner Lebensart, von seinem Auftreten und seinen radikalen Worten eine Faszination aus. Was ist das Geheimnis dieses Mannes? Wer bist du denn eigentlich? Fragten sie ihn andauernd. Doch alle Vermutungen, die dem Geheimnis auf die Spur kommen wollten: Du bist der Messias, Elija oder sonst ein Prophet, erwiesen sich als falsch. „Ich bin die Stimme, die in der Wüste ruft“, mit dieser geheimnisvollen Antwort lässt Johannes die Leute aus Jerusalem, die so gerne gewusst hätten, wie sie dran sind, stehen. Nur dies eine gibt er von sich preis: Mein Auftrag und mein Geheimnis ist, dass ich auf einen Größeren hinweise.

Das himmlische Sternenmädchen mit seinem Korb, der geheimnisvolle Wüstenmann mit seiner verschlüsselten Antwort. Sind dies nicht Hinweise darauf, dass das Geheimnis eines Menschen auf einen Größeren hinweisen will, der dies in ihn hineingelegt hat?


Pfarrer Stefan Mai

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