Ein Türöffner für Gott: „Schau hin!“

Predigt zum 2. Adventsonntag (Jes 40,1-11)

Ein Mann und eine Frau machen im Spätherbst einen Spaziergang. Da bleibt die Frau plötzlich stehen und stupst ihn an, deutet auf den Waldhang und meint: „Schau mal da drüben, das Grün des Frühlings!“ Er schaut verdutzt und brummt: „Es ist Herbst, das Grün des Frühlings schaut anders aus!“ Sie gehen den Waldweg weiter. Da bleibt sie wieder stehen. „Schau doch genau hin, das Grün des Frühlings!“, und zeigt ihm einen grünen Zweig am Wegrand. „Nein, es ist Herbst, schau doch auf den grünen Blättern sind schon die Todesflecken zu sehen!“
Zwei verschiedene Sichtweisen. Der nüchterne Mann sieht in den noch grünen Blättern des Herbstes das langsame herbstliche Absterben der Natur, die sensible Frau sieht in den letzten Farben des Herbstes bereits die Farben des Frühlings. Mitten im langsamen Sterbeprozess der Natur entdeckt sie bereits neues Leben.

Solch unterschiedliche Sehweisen begegnen uns auch in der heutigen Lesung in einem ganz anderen Zusammenhang. Das Volk Israel ist schon lange nach Babylon verschleppt. Ein aussichtsloses, depressives Lebensgefühl lastet auf den Juden. Ein Volk sieht für seine Zukunft schwarz. In dieser Situation erhält der Profet Jesaja den Auftrag: „Tröstet, tröstet mein Volk ... Verkündet, dass ihr Frondienst zu Ende geht ... Bahnt für den Herrn einen Weg durch die Wüste ...“ Mein Gott, wovon redest du denn, so empfindet Jesaja diese Worte, die tragen doch nicht angesichts der Realität, angesichts der aussichtslosen Lage. Schau doch, das Vertrauen in dich reicht nicht weiter als die kurze Blüte der Feldblumen. Sie blühen auf, doch schnell ist es mit der Blüte vorbei und sie verdorren. Von wegen daran glauben, dass Gott kommt und seine Herrlichkeit sich offenbart.
Doch Gott ist hartnäckig. Er fordert Jesaja auf, genau hinzuschauen. Gleich drei Mal lässt er durch den Profeten ausrichten: „Seht!“ „Seht, da ist euer Gott, auch wenn ihr ihn nicht spürt! Seht, Gott, der Herr kommt mit Macht, auch wenn ihr unter eurer Ohnmacht leidet. Seht, er bringt den Siegespreis mit, auch wenn ihr euch als Verlierer vorkommt!“ Gott fordert zu einer neuen Sichtweise auf, zu einer hoffnungsvollen Vision, die eine neue Perspektive eröffnet.

Ich denke, das gilt auch für heute: Um Gott zu entdecken, brauchst du eine besondere Sicht der Dinge, ja eine Sicht hinter die Dinge. Um eine Straße zu bauen, auf der Gott leichter zu dir gelangen kann, brauchst du eine neue Sehschule!

Für Kinder beginnt diese dort, wo sie lernen, nicht nur flüchtig in Fernsehmanier zu glotzen, sondern Dinge ganz neu zu betrachten, Einzelheiten unter die Lupe zu nehmen, mit Entdeckerfreude an die Welt heran zu gehen. „Schau genau!“, so heißt der Titel eines Buches, das ich zur Zeit lese, in dem eine Pädagogin Kinder begeistern will, als kleine Entdecker Meisterwerke der Malerei durch genaues Hinschauen zu interpretieren und ihre versteckten Botschaften zu entschlüsseln.
Auch für uns Erwachsene heißt diese Sehschule: „Schau genau hin!“ In der Beziehung zwischen Menschen kann ich die Spuren Gottes leichter entdecken, wenn mein Auge noch entdeckerfreudig bleibt für das Gute, für die positiven Eigenschaften und Möglichten des anderen, anstatt ihn auf alte bekannte Muster zu fixieren.
Und was wäre das für eine Kirche, wenn wir nicht nur auf die Sterbeprozesse in unserer Kirche stieren würden und in ein nicht endendes Lamentieren geraten, sondern neugierige Augen hätten, wo Gott unvertraut und überraschend in das Leben der Menschen eintritt. Was wäre das für eine Kirche, die mit Gottes unerschöpflichen Möglichkeiten wirklich rechnen würde, anstatt unsere eigene menschliche Ängstlichkeit zum Maß Gottes zu erklären.

„Schau hinüber zum Waldhang, das Grün des Frühlings“, sagte die Frau im Herbst.
„Seht da euer Gott!“ ermuntert Jesaja mitten in einer trostlosen Lage.
Um solche Augen, um diese echte adventliche Haltung, die es Gott leichter macht, in meinem Leben anzukommen, möchte ich beten:

Du Gott im Unvertrauten,
unerschöpflich sind deine Möglichkeiten.
Immer wieder überraschst du uns,
wenn wir vor Mauern und Grenzen stehen,
wenn wir im Trott einschlafen,
wenn wir das immer Gleiche
unsere Aufmerksamkeit trübt.
In immer neuen Verkleidungen
Trittst du in unser Leben.
Manchmal glauben wir dies nicht,
weil wir nicht für möglich halten,
was dir möglich ist.
Du Gott der unbegrenzten Möglichkeiten
Bist unsere Quelle der Hoffnung
Für unser festgefahrenes Leben.
Öffne uns Augen, Sinne und Herz
Für deine Überraschungen,
die uns Zukunft und Hoffnung schenken.
(Gebet nach H. Arens)


Pfarrer Stefan Mai

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