Ein Türöffner für Gott – bereit für die Stille

Predigt zum 1.Advent (Barbara-Gottesdienst der Oberschlesier)

Er hat sie einsperren lassen in den Turm, damit sie keine Gelegenheit findet, eigene Wege zu gehen. Die Stille des Turmes sollte seinem Töchterchen die Flausen aus dem Kopf treiben, das mit dem Spinnen für diesen Christus und die Sympathie für seine Anhänger. Die hatten seiner Tochter den Kopf verdreht. Der Vater wollte nicht, dass sie in die Fänge dieser Christen gerät. Seiner Meinung nach sollte sie lieber eine gute Partie machen. Und dafür hatte er schon vorgeplant. Sie sollte das Lebenskonzept leben, das er für seine Tochter ausgedacht hat. Die Einsamkeit und Stille des Turmes sollte sie endlich zur Besinnung im Sinne des Vaters bringen.
Und Barbara kommt zur Besinnung, aber ganz anders, als der Vater es sich gewünscht hat. In der Stille des Turmes hört sie auf ihre eigene Stimme, denkt ihre eigenen Gedanken und geht ihre eigenen Wege. Sie lässt ein drittes Fenster im Turm herausbrechen als Zeichen für ihren Glauben an den christlichen Gott und als Zeichen ihrer neu gewonnenen inneren Freiheit. So erzählt die uralte Barbara-Legende.

Am Anfang eines brandneuen Films mit dem Titel „Die große Stille“ ist in Großaufnahme ein Ohr zu sehen. Nichts sonst. Ein Mönch wacht mitten in der Nacht und horcht auf die Stille. Und die Zuschauer horchen mit ihm – eine schier endlos scheinende Weile. Dann fährt die Kamera zurück. Der Hörende ist ein junger Kartäusermönch, der in seiner Zelle betet. Er kniet, die Hände vor der Stirn verschränkt. Seine helle Kutte faltet sich über Körper und Beine bis zu den nackten Füßen in Sandalen. Zweimal erhebt sich der Mann, öffnet, schließt die Lüftungsklappe am Kaminrohr seines Zimmerofens. Dann ein schwarzweißer Schriftzug: „Da zog der Herr vorüber: Ein heftiger Sturm...Doch der Herr war nicht im Sturm...Dann kam ein sanftes leises Säuseln (1 Kön 19,11-13).
Diese Eingangsszene des Films „Die große Stille“ ist der Türöffner für eine für uns inzwischen fremd gewordene Welt der Stille und der Einsamkeit der Kartäusermönche. Philip Grönen lädt in seinem fast dreistündigen Film die Zuschauer ein, sich auf die Wirkung der Stille einzulassen. Er selbst hat mehrere Monate in der Kartause mitgelebt. In seinem Film fängt er Eindrücke der Stille ein. Keine Musik, ganz wenig Dialoge, viele Naturgeräusche, menschliche Schritte, Huster, einzelne Mönchsgesichter in Großaufnahme. Sie sind der Spiegel meiner selbst, behauptet der Regisseur. Sie stellen still die Frage: Wer bist du vor dir selbst, vor Gott? Wozu bist du auf der Welt? Und von einem ist Grönen überzeugt: „In der Stille kannst du deine Lücken, Verdrängungen, Nöte nicht zukleistern. Du musst dich stellen.“

Eine alte christliche Legende – ein aktueller Film. Beide behaupten: Die Stille macht vieles mit dir. Sie ist eine Tür zu dir selbst und ein Türöffner für Gott. Beide laden im Advent zu einem Experiment ein: Wenn ich am Abend nach Hause komme, die Tür hinter mir zu zu machen, Stille in der Wohnung zu lassen und still zu werden. Ja sich für einige Zeit sogar ganz bewusst sich hinsetzen und in die Stille zu horchen, ohne zu meditieren, zu beten und ohne nachzudenken. Einfach dasitzen und in die Stille horchen. Wer es wagt, wird viele Geräusche von außen hören. Und es werden aus dem Inneren viele Gedanken auftauchen, die an meine Tür pochen: Themen, die mich zur Zeit beschäftigen; Sehnsüchte, die in mir wohnen; Träume, die mich beflügeln; Ängste, die mich lähmen. Heute sehnen sich viele Menschen danach, innerlich ruhig zu werden, haben aber zugleich Angst, in die Stille zu gehen. Da könnten ja alle verdrängten und unterdrückten Bedürfnisse wie ein Vulkan hochgehen. Eines ist jedoch klar: Viele Formen von Erschöpfung haben gerade darin ihre Ursachen, dass Menschen ungeheuer viel Energie aufwenden, um den Vulkan unter Verschluss zu halten.

Die Barbaralegende behauptet: In der Stille hat ein junger Mensch zu sich selbst gefunden. Philip Gröning meint nach den Dreharbeiten seines Films „Die große Stille“, dass er niemals zuvor in seinem Leben Menschen erlebt hat, die so angstfrei sind wie diese Mönche, die durch die Stille gehen. Ich glaube: Wer heute den Mut zur Stille aufbringt und auf die inneren Stimmen hört, der spürt, in diese Stimmen klopft Gott an meine Tür!


Pfarrer Stefan Mai

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