Barmherzigkeit – ein Fremdwort?

Predigt zum Christkönigssonnrtag am 20.11.2005

Einleitung

Wenn Menschen, die vor hundert Jahren gelebt haben, uns heute reden hörten, dann würden sie ganz schön staunen. Die Sprache hat sich verändert. Viele Worte, die zu ihrer Zeit selbstverständlich waren, sind verschwunden, ganz andere sind in Mode gekommen. Zu den Worten, die verschwunden sind, gehört sicherlich das Wort „Barmherzigkeit“. Außer in den biblischen Lesungen kommt das Wort in unserer Alltagssprache nicht mehr vor. Wer sagt schon noch: Sei doch barmherzig. Wenn überhaupt, dann sprechen wir von „Nachsicht“, „Rücksicht“, „Mitleid“ – aber nicht mehr von „Barmherzigkeit“. Das Wort von seinem Ursprung her meint: dass Not zu Herzen geht und deswegen Menschen bereit sind, etwas dagegen zu tun. Andere „ab¬armen“, aus der Not entreißen. Um dieses Wort „Barmherzigkeit“ geht es heute im Evangelium.

Predigt

In jedem Schulfach gibt es Grundwissen. Das muss man immer parat haben. Das kleine Einmaleins in Mathematik. Die Namen der verschiedenen Getreidearten in Biologie. Die wichtigsten Regeln für Groß- und Kleinschreibung in Deutsch. Die Hauptstädte Europas in Erdkunde. Die Namen der deutschen Kanzler und Bundespräsidenten in Geschichte. Und in Religion gehörte es in meiner Kindheit selbstverständlich dazu, die sieben Werke der Barmherzigkeit aufzählen zu können. Ich würde eine Wette eingehen: In Günther Jauchs Quizsendung wäre das inzwischen eine Millionenfrage: Wie heißen die sieben Werke der Barmherzigkeit? (…)

Die richtige Lösung wäre: 1. Hungrige speisen. 2. Durstige tränken. 3. Fremde beherbergen. 4. Nackte bekleiden. 5. Kranke pflegen. 6. Gefangene besuchen. 7. Tote bestatten.

Die Werke der Barmherzigkeit: ein Herzensanliegen Jesu

Sechs dieser sieben Werke haben wir heute schon einmal gehört. Vorhin im Evangelium. Da behauptet Jesus: Am Ende wird es entscheidend sein, wie wir mit unseren Mitmenschen umgegangen sind. Und die Menschen seiner Zeit hatten genau vor Augen, was er damit meinte. Hungrige speisen: Da hatten sie die vielen Bettler vor Augen, die den ganzen Tag an den Toren der Städte und auf den Marktplätzen um ein Almosen für sich und ihre Familien bettelten. Durstige tränken: Da hatten sie die Durchreisenden vor Augen, die im heißen Orient darauf angewiesen waren, von den Brunnen und aus den Zisternen der Dörfer trinken zu dürfen und nicht weggescheucht zu werden. Fremde beherbergen: Jesu Hörer wussten, wie schwer es die Menschen hatten, die ihre Heimat verlassen mussten und ohne Mittel plötzlich in fremden Städten nach einem Dach über dem Kopf suchten. Nackte bekleiden: Es war nicht selbstverständlich, einen Schrank voll Kleider zu haben. Viele hatten nur ein einziges Hemd oder ein verflicktes Kleid. Kranke pflegen: Es gab keine Krankhäuser. Es gab keine Versicherungen. Wehe, wer keine Angehörigen oder Kinder hatte, die sich um ihn kümmerten, wenn er krank war. Gefangene besuchen: Es gab keine Verpflegung in antiken Gefängnissen. Das Essen musste durch Angehörige oder Freunde gebracht werden.
Die entscheidende Frage nach Jesus wird am Ende sein: Wie bist du mit solchen Menschen umgegangen, die sich aus eigener Kraft nicht mehr helfen konnten und auf fremde Hilfe angewiesen waren? Warst du barmherzig zu ihnen, hast du sie ein Stück weit aus ihrer Notlage befreit – oder hast du eiskalt weggeschaut?

Werke der Barmherzigkeit heute

Auch für uns wird es am Ende um die gleiche Frage gehen. Denn die Situationen, in denen sich Menschen aus eigener Kraft nicht mehr helfen können, gibt es nach wie vor. Nur haben sie in unserer Zeit und in unserem Land ein anderes Gesicht.
Bei „Hungrige speisen“ und „Durstige tränken“ denke ich heute nicht in erster Linie an Brotpakete verteilen, ein Glas Wasser reichen. Ich habe Menschen vor Augen, die nach Leben hungern, nach Aufmerksamkeit, Zuneigung. Die innerlich verdursten, wenn niemand anfängt, mit ihnen zu reden. „Hungrige speisen“ und „Durstige tränken“ heißt für mich heute: anderen Menschen sich zuwenden.
Fremde aufnehmen ist auch in unserer Zeit ein aktuelles politisches Thema. Was wird über Asylpolitik gestritten. Und schon Kinder spüren in den Klassenzimmern, wie schwer es ist, wenn ein Kind umzieht, in eine fremde Klasse kommt und niemanden kennt. Wie schwer ist es da, Kontakt aufzunehmen und reinzukommen. Und wehe, wenn dann niemand sich erbarmt, den ersten Schritt macht, zu fragen anfängt, sich neben hin setzt, eine Einladung zum Spielen ausspricht. Wo das geschieht, da geschieht das Werk der Barmherzigkeit: Fremde aufnehmen.
„Nackte bekleiden“. Nackt muss bei uns keiner herumlaufen. Aber „nackt“ und „ausgezogen“ kommen sich viele vor: wenn sie von anderen ausgelacht werden, wenn sie einen Fehler gemacht haben und dauernd auf ihnen herum gehackt wird, wenn sie gehänselt und bloßgestellt werden. „Nackte bekleiden“, das heißt für mich heute: Schwächen in Liebe zudecken. Auch die positiven Seiten eines Bloßgestellten sehen und zur Sprache bringen.
„Kranke besuchen“: Wir wissen, dass es nicht leicht ist, jemanden, der schwer krank ist, im Krankenhaus zu besuchen. Wie schwer es ist, durch die Tür von einem Alten- oder Pflegeheim zu gehen, wenn einen nur leere Gesichter anstarren und einem ein strenger Geruch entgegenkommt. „Kranke besuchen“, das kann auch aktuell werden, wenn Menschen sind und nicht überall mitmachen können. Die Frage ist: Stelle ich mich dann auf sie ein, suche ich nach Wegen, wie sie vielleicht doch einbezogen werden können?
„Gefangene besuchen“: „Gefangene“, die auf einen Besuch warten, gibt es nicht nur in den Gefängnissen. Immer mehr Menschen sind in sich selbst gefangen, trauen sich nicht, auf andere zuzugehen. Welch ein Segen sind da Menschen, die sie ansprechen, die sie anrufen, die fragen: Kommst du nicht mit? Gefangene besuchen heißt für mich heute in erster Linie: Verschlossene aufschließen.
Anderen sich zuwenden – Fremde aufnehmen – Schwächen in Liebe zudecken – Gehandikapte beteiligen – Verschlossene aufschließen. Ich behaupte: Wenn wir diese Liste im Kopf haben wie das Einmaleins der Mathematik, dann gehen wir mit anderen Augen durch die Welt. Dann fällt uns auf, wo Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung auf fremde Hilfe angewiesen sind. Und diese Liste regt auch an, nach Wegen zu suchen, wie Hilfe aussehen und Not ein Stück weit gelindert werden kann. Und eines sollte uns klar sein: Nach Jesu Worten werden wir am Ende unseres Lebens nur danach gefragt.


Pfarrer Stefan Mai

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