„Ich habe mein Selbst nie verloren, ich habe es nur schlummern lassen...“

Predigt zum 33. Sonntag im Jahreskreis (Mt 25,14-30)

Auf der Berlinale 2005 feierte der Film des schwedischen Regisseurs Kay Pollak mit dem Titel „wie im Himmel“ einen überwältigenden Erfolg. Von 8 Millionen Schweden zog er über zwei Millionen in die Kinos und läuft zur Zeit auch in Deutschland. Er erzählt von Daniel Dareus, einem großen Komponisten und Dirigenten. Nach einem totalen Zu-sammenbruch seiner Kräfte kehrt der international gefeierte Musiker in der Mitte des Lebens einsam und krank in sein abgeschiedenes schwedisches Heimatdorf zurück. Er zieht in das alte Schulhaus ein und will keine Musik mehr machen. Er will – wie er sagt – nur noch zuhören. Doch bald wird er vom evangelischen Pfarrer des Ortes überredet, den kleinen Kirchenchor zu übernehmen. Nach anfänglichem Zögern widmet sich Dareus mit Hingabe und unkonventionellen Methoden dieser Aufgabe. Sein großes Ziel ist, dass der Mensch Musik als etwas Göttliches entdeckt. Er ist überzeugt: Der Mensch muss sich nur „seinem“ Ton öffnen, ihn entdecken, den Ton des anderen achten und sich in den Zusammenklang einer großen Vielfalt einfügen. Um dies spüren zu lassen, greift er zu unkonventionellen Methoden, um die musikalisch ungebildeten und gehemmten Chormitglieder aus der Reserve zu locken und ihnen ein Gefühl für ihre natürliche Begabung zu vermitteln. Sie absolvieren ein Körper- und Entspannungstraining, bei dem sie sich – was sie immer sorgsam vermieden haben – gegenseitig berühren. Und sie üben gemeinsam so lange, bis jeder einzelne von ihnen seinen eigenen, individuellen Ton gefunden hat.

Da ist die hübsche Verkäuferin Lena im Supermarkt des Dorfes. Sie kann nach außen hin herzlich lachen, dahinter verbirgt sich aber eine große Traurigkeit und eine tiefe Verletzung. Durch die Begegnung mit Daniel Dareus wird sie sich ihres offenen und herzlichen Wesens immer mehr bewusst, findet langsam wieder mehr Vertrauen in die Menschen und als Daniel sie fragt: „Glaubst du denn an Engel?“, gibt sie die Antwort: „Wenn ich meine Augen zusammenkneife, dann seh’ ich an Menschen die Flügel schon mal. Aber es wird erst gut sein, wenn ich in jedem Menschen Engel erkenne.“
Da ist der Dorftrottel Tore, der bei den Chorproben immer nur herumschleicht und ausgelacht wird, wenn er in die Hose pinkelt. Doch der Dirigent Dareus entdeckt seine wunderschöne Bassstimme und sein natürliches Rhythmusgefühl und verhilft ihm dadurch zu einem ganz neuen Stand in der dörflichen Gemeinschaft.
Da ist die Pastorsfrau Inger, die unter der verklemmten Pfarrhausatmosphäre leidet und durch das Horchen auf den eigenen Ton eine innerliche Befreiung von einer trockenen Wort- und Gesetzesreligion erfährt und zum Schrecken ihres Mannes auf einer Feier wie befreit und ausgelassen tanzt.
Und da ist die stimmlich begabte Gabriella. Sie leidet unter ihrem krankhaft eifersüchtigen Mann, der sie mit unschöner Regelmäßigkeit schlägt. Sie hat nur noch Angst, jedes Selbstbewusstsein und Lebensfreude verloren. Dareus spürt, was eigentlich in dieser Frau steckt. Er stellt ein Bild von ihr daheim aufs Klavier, hört in sie hinein und schreibt für ihre Stimme ein Lied, mit dem sie bei einem Konzert brilliert und dem Chor zu einem Riesenerfolg verhilft. Der Chor aus Schweden wird zu einem internationalen Wettbewerb nach Salzburg eingeladen.

Der Song von Gabriella hat im Film „Wie im Himmel“ eine Schlüsselfunktion, weil er zusammenfasst, wonach sich Menschen sehnen: nach Entfaltung der eigenen Begabungen, nach einem erfüllten Leben. Und er spricht von der Sehnsucht, dem anderen ganz und gar offen und ohne Angst zu begegnen. Im großen Kinosaal konnte man eine Stecknadel fallen hören, als Gabriella sang:

Jetzt gehört mein Leben mir
Meine Zeit auf Erden ist so kurz
Meine Sehnsucht bringt mich hierher
Was mir fehlte und was ich bekam
Es ist der Weg, den ich wählte
Mein Vertrauen liegt unter den Worten
Es hat mir ein kleines Stück gezeigt
Vom Himmel, den ich noch nicht fand
Ich will spüren, dass ich lebe
Jeden Tag, den ich habe
Ich will leben, wie ich es will
Ich will spüren, dass ich lebe
Wissen, ich war gut genug
Ich habe mein Selbst nie verloren
Ich habe es nur immer schlummern lassen
Vielleicht hatte ich nie die Wahl
Nur den Willen, zu leben
Ich will nur glücklich sein
Dass ich bin, wie ich bin
Stark und frei sein
Sehen, wie die Nacht zum Tag wird
Ich bin hier
Und mein Leben gehört nur mir
Und der Himmel, den ich suchte
Den finde ich irgendwo
Ich will spüren
Dass ich mein Leben gelebt habe.


Dieser Film „Wie im Himmel“ transportiert in Bildern, Worten und Liedern: Es ist wie im Himmel, wenn Menschen zu ihrem eigenen Ton finden, wenn sie ihr Begabungen erkennen und zu sich selbst stehen können. Es ist wie im Himmel, wenn Menschen den Ton im anderen achten und wie in einem Chor die verschiedenen Begabungen zusammenfließen lassen. Es ist wie im Himmel, wenn es Menschen gibt, die zugeschüttete Begabungen in Menschen wieder wach küssen und ihnen helfen, an sich selbst neu zu glauben.

Liebe Leser, beim Sehen dieses Films musste ich sofort an das heutige Gleichnis von den Talenten denken. Mir wurde klar:
Es ist nicht das Problem, dass Menschen keine Begabungen hätten. Das Problem ist, dass die meisten Menschen nicht an die eigenen Begabungen glauben können und sie deshalb im Lauf des Lebens vergraben oder durch schlecht Lebenserfahrungen nicht mehr an sie glauben können.
Nicht die fehlenden Talente sind das Problem, aber es gibt zu wenig Menschen, die andere auf verdeckte Talente aufmerksam machen und ihnen helfen, diese verborgenen Schätze zu heben und neues Selbstbewusstsein daraus schöpfen.
Nicht dass die Talente unterschiedlich verteilt sind ist das Problem, sondern die viele Neider, die sich selbst und andere durch andauerndes Vergleichen mit anderen kaputt machen.
Man kann Gott anklagen, warum er die Talente den Menschen so unterschiedlich zugeteilt hat, man kann sich aber auch einmal fragen, wie viele Menschen ihr Talent nicht vergraben würden oder hätten, wenn es mehr Eltern, Erzieher, Partner, Freunde, sensible Menschen geben würde, die es als die vornehmste Aufgabe empfinden würden, dem ganz persönlichen Ton in sich nachzuspüren und Menschen dabei helfen würden, den eigenen Ton zu finden und ihn herauszulocken.


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de