Weisheit ist weit mehr als Wissen

Katholische Morgenfeier am 6.November 2005 zum 32. Sonntag im Kirchenjahr (Weish 6,11-19)

In der letzten Woche flatterte ein Werbeprospekt des Buchhandels für den neuen Brockhaus auf meinen Schreibtisch. Da lese ich im Begleitschreiben meiner Buchhandlung: „Innovativ, einzigartig und erstmals in 30 Bänden: Die neue Brockhaus Enzyklopädie ist da. Sehr geehrte Damen und Herren, Informationsgesellschaft, PISA-Studie, Quizshows: Das Thema Wissen ist heute allgegenwärtig. Selten zuvor hatte Wissen einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert. Wissen bedeutet Zukunft und Anerkennung. Wer viel weiß, hat viel davon. Wir freuen uns, Ihnen die 21. Auflage der Brockhaus Enzyklopädie präsentieren zu dürfen. Zum 200-jährigen Verlagsjubiläum hat Brockhaus das Wissen der Welt auf den neuesten Stand gebracht. Mit nunmehr 30 Bänden ist dieser enzyklopädischer Meilenstein ein Meisterwerk an Sinnlichkeit und Haptik und bietet zukunftsweisende Innovationen, die es in dieser Form noch nicht gab.“ Und in großen Buchstaben lese ich auf dem Prospekt: „Wer mehr weiß, kann mehr bewegen.“

Wer möchte nicht viel wissen? „Wissen ist Macht“, Wissen ist Voraussetzung für das Ergreifen eines Berufes, für Erfolg und gute Posten, Wissen verschafft Ansehen. Aber auch dies wissen wir: Wissen, Bildung, Intelligenz ist noch lange keine Garantie für ein gelingendes, zufriedenes und glückliches Leben. Allein ein Gehirn mit Speicherkapazität einer Computerplatte nützt wenig, wenn es nicht die Prozessoren der Umsetzung auf das praktische Leben gibt. Menschen, die vom Wissen her wandelnden Lexikas gleichen, das Wissen zwar repetieren aber nicht anwenden können, geraten schnell in die Gefahr, zu schrulligen Figuren zu werden. Und so viele Menschen, die keinen hohen Bildungsstandard und Intelligenzquotienten aufweisen können, stehen in bewundernswerter Weise ihren Mann und ihre Frau im alltäglichen und beruflichen Leben. Lebensfreude und Lebensglück haben nicht das Wissen als Voraussetzung.

Nicht umsonst borden in den Büchereien die Buchregale mit den Sparten Ratgeber/Lebenshilfe über. Nicht umsonst zieht es die Menschen zu solchen Büchern hin, die 100 Tipps zum Glücklichsein versprechen, die Beziehungen gelingen lassen, Krisen meistern helfen wollen, Ängste besiegen und Trauer verarbeiten wollen. Irgendwie wohnt tief in uns Menschen die Sehnsucht, irgendwo und irgendwann den Stein des Weisen, den Schlüssel zu einem gelingenden Leben zu finden. Heutige Menschen suchen danach in Büchern, in Bildungshäusern, Meditationszentren, Wellnessfarmen, auf Bildungs- oder Abenteuerreisen. Die Lebenskunst zu erlernen, sich selbst zu erkennen und anzunehmen, mit allen Sinnen das Leben empfinden, tiefe Beziehungen zu gestalten, meiner Arbeit einen Sinn abzugewinnen, meiner Sehnsucht zu trauen, durch Krisen zu wachsen und zu reifen, leben anstatt gelebt zu werden, was würden dafür Menschen geben! „Ja, wenn ich wüsst, wo das Glück zu finden ist“, so singen die unvergessenen „Comedian Harmonists“ in einem ihrer Lieder:

Comedian Harmonists „Wenn ich wüsst ...“

Sehnsucht nach Weisheit

Auf der Suche nach einem Schlüssel zu einem gelingenden Leben greifen Menschen heute gerne nach einfachen Geschichten, die in einprägsamen Bildern vom Leben erzählen und einen einfachen Rat fürs Leben mitgeben. Drei Beispiele:

Gewicht eines Wortes

Der Meister sah ihn schon weitem kommen. Sein Gang war müde, schwer und schleppend. Noch bevor er ihn ansprechen konnte, jammerte er: „Das Leben liegt wie eine unerträgliche Last auf meinen Schultern.“
Der Alte lächelte und ermunterte ihn: „Nein, das Leben ist leicht wie eine Schneeflocke!“ Doch der andere widersprach: „Das siehst du völlig falsch. Jeder Tag lädt mir eine neue Belastung auf. Ich kann bald nicht mehr. Was soll ich denn tun?“
Du bist es selbst, der sich die Lasten auflädt. Lass einfach los!“
„Aber...“, meinte der andere.
„Schon dieses „aber“ wiegt mehr als ein Sack Zement.“


Zweifel oder Glaube

Ein Mensch war auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens. Aber mit keiner der Antworten, die ihm unterwegs von den Religionen der Welt gegeben wurden, war er zufrieden.
Schließlich begegnete er einer Frau, die sich auf die Kostbarkeiten der Natur verstand. Durch das ständige Ausprobieren der Wirkungen vo Pflanzen und Kräutern wurde ihr eine natürliche Weisheit geschenkt, die sich auch die schwierigsten spirituellen Antworten finden ließ.
Sie entließ die Suchenden mit folgenden Worten: „Dein Leben steht zwischen Glaube und Zweifel. Wähle den Zweifel. Denn der Glaube führt leicht in die Selbstgerechtigkeit. Det Zweifel ist der natürliche Gegner des Vorurteils. Und das Vorurteil lässt dich nicht erkennen, was deine Aufgabe in dieser Welt ist.“


Lebenskunst

Das Leben ist wie ein Fluss, in den man ungefragt hineingeworfen wurde. Man kann nun:

1. Vor lauter Lebensangst gelähmt sein und jämmerlich ersaufen.

2. Seine Energie in einen sinnlosen Lebenskampf stecken, um gegen den Strom anzuschwimmen und sich letztendlich nur mühsam über Wasser halten.

3. Es als gegeben hinnehmen, mit dem Strom schwimmen und Lebensfrust verspüren.

Oder 4. Sich aus lauter Lebenslust darin baden wie ein Fisch und dessen Weite, Tiefe und Vielfalt entdecken.

In Anbetracht der unumstößlichen Tatsache, dass man ohnehin nicht lebend am anderen Ufer ankommt, ist es eine Frage des gesunden Menschenverstandes wie ein Fisch zu sein.


Drei weisheitliche Geschichten, die sich mit der Frage beschäftigen: Wie kann ich das Leben anpacken? Wie kann ich das Schwere des Lebens tragen? Was hilft mir, mein Leben zu bestehen und es gelingen zu lassen?

Diese drei Geschichten kommen aus einem verschiedenen Hintergrund, aus der buddhistischen Tradition und aus der eher esoterischen Ratgeberecke. Und wir spüren: Diese Geschichten sprechen aus Lebenserfahrung, sie atmen Weisheit und sie geben einen einfachen Ratschlag ins Leben mit, der Menschen anspricht. Viele Menschen suchen heute nach einer neuen Orientierung und klagen oft, die eigene christliche Tradition helfe ihnen nicht mehr dabei, dem Leben Gestalt und Ausrichtung zu geben und dadurch hinzufinden zu einem gelungenen Leben. Viele suchen heute nach einem „Stichwort“, das ihnen – ähnlich wie dem Schauspieler auf der Theaterbühne – wieder auf der Lebensbühne auf die Sprünge hilft und den roten Faden im Leben wieder zu finden. Aber worauf soll der Mensch heute hören, wohin greifen, wem vertrauen? „Woher, wohin - nicht Nacht, nicht Morgen,/ kein Evoe, kein Requiem,/ Du möchtest Dir ein Stichwort borgen - / allein bei wem?“ So drückt der Dichter Gottfried Benn die Verlegenheit gegenüber der überkommenen Orientierung aus und klagt über die vergebliche Ausschau nach neuer Orientierung: „Du möchtest dir ein Stichwort borgen, allein bei wem?“

Lied einspielen: Worauf sollen wir hören? (Gl 623)

Das Buch der Weisheit

Unter den Büchern des Alten Testaments finden wir eine besondere Gattung, die sogenannten Weisheitsbücher. Dazu zählen wir das Buch Jiob, das Buch der Sprichwörter, das Buch des Weisheitslehrers Jesus Sirach und das Buch der Weisheit. Die biblische Tradition der Weisheitsbücher schätzt Bildung und Wissen hoch, sie weiß aber auch, dass Weisheit weit mehr ist als Bildung, Wissen und Intelligenz. Weisheit ist die große Kunst, den Schlüssel zu einem gelingenden Leben zu finden. Die Weisheitsbücher wollen ihre Leser auf diese Fährte setzen und auf diesem Weg voranbringen. Es geht ihnen weniger um Wissensvermittlung als vielmehr um eine Bestärkung in der rechten Orientierung des Lebens und eine Einübung von Unterscheidungsvermögen und Urteilskraft in einer schon damals komplexen Welt. Dafür machen sie Werbung. Aber die Konkurrenz ist groß.

Die Situation, sich im Wald der Sinnangebote nicht zu verirren ist nicht neu. Sie war schon wie heute genauso gegeben bei der Entstehung des Weisheitsbuches.
Der Schreiber des Weisheitsbuches lebt im ersten Jahrhundert vor der Zeitenwende in Alexandrien. Alexandrien, der zweitgrößten Stadt des römischen Reiches. Alexandrien besitzt bedeutende Bibliotheken und ist eine Hochburg des Wissens. Hier begegnen sich die verschiedensten Kulturen und Philosophien. Hier lebt eine jüdische Gemeinde. Sie ist einer starken Konkurrenz ausgesetzt, der hellenistischen Kultur und einer großen Anzahl von philosophischen Entwürfen. Einerseits muss sie sich einer fremden Umwelt und ihren Sitten anpassen. Andererseits die eigenen Überlieferungen wahren, sie neu verstehen lernen und verteidigen. Auf viele Juden übt das kulturelle Leben der Griechen und ihre philosophischen Theorien ein große Anziehungskraft aus. Viele sind verunsichert und fragen sich: Wer bietet die besten Sinnentwürfe für mein Leben an? Worauf sollen wir hören?

Lied Gl 623 einspielen: Worauf sollen wir hören

Worauf sollen wir hören, sag uns worauf? Wohin sollen wir gehen, sag uns wohin? Der Verfasser des Weisheitsbuches weiß: So mancher in seiner Gemeinde ist irritiert und auf dem Weg, seine jüdischen Wurzeln zu verlassen und die Quellen eines gelingenden Lebens woanders zu suchen. Das Buch der Weisheit ist eine Werbeschrift in eigener Sache. Es will davon überzeugen, dass der jüdische Glaube den Vergleich mit der hellenistischen Weltanschauung und den zeitgenössischen philosophischen Strömungen und anderen Sinnanbietern aufnehmen kann. In griechischer Sprache, oft in griechischen Denkmustern versucht er die eigene Tradition als den Weg zum Leben anzupreisen. Im 6.Kapitel des Weisheitsbuches lesen wir:

„Verlangt also nach meinen Worten. Sehnt euch danach und ihr werdet gute Belehrung empfangen. Strahlend und unvergänglich ist die Weisheit. Wer sie liebt, erblickt sie schnell, und wer sie sucht, findet sie. Denen, die nach ihr verlangen, gibt sie sich sogleich zu erkennen. Wer sie am frühen Morgen sucht, braucht keine Mühe, er findet sie vor seiner Türe sitzen. Über sie nachzusinnen ist vollkommene Klugheit. Wer ihretwegen wacht, wird schnell von Sorge frei. Sie geht selbst umher, um die zu suchen, die ihrer würdig sind. Freundlich erscheint sie ihnen auf allen Wegen und kommt jenen entgegen, die an sie denken. Ihr Anfang ist aufrichtiges Verlangen nach Bildung, das eifrige Bemühen um Bildung aber ist Liebe. Liebe ist Halten ihrer Gebote. Erfüllen der Gebote sichert Unvergänglichkeit, und Unvergänglichkeit bringt in Gottes Nähe“ (Weish 6,11-18).

Der Ratschlag für heute

Die Kunst zu leben, aus dem Glauben heraus richtig zu leben, ist erlernbar und kein aussichtsloses Unterfangen. Weisheit ist kein Privileg für die Gescheiten, Einflussreichen und gut Betuchten. Nein, so sagt der Text aus dem Buch der Weisheit, die Weisheit ist jedem zugänglich, jedem, der nach ihr verlangt, an sie denkt, sie sucht, sie liebt und ihretwegen wach bleibt. Es braucht keine große Mühe, du findest sie vor der eigenen Haustür, das heißt in deinem ganz normalen Alltag. Du brauchst keine besonderen Erlebnisse und gedanklichen Höhenflüge, keine Gurus und exquisiten spirituellen Angebote. Du musst nicht auf allen möglichen Gebieten suchen und experimentieren, du musst nicht in die Ferne ziehen, heute die Hoffnung zu haben: Ich finde die Weisheit in indianischen Worten, morgen bei Konfuzius, in einem halben Jahr in einem Yoga-Kurs, im nächsten Frühjahr in der Naturmystik. Der Text aus dem Weisheitsbuch fragt: Machen wir deshalb vielleicht so wenig Fortschritte in der Weisheit, in einem nüchternen, lebensbezogenen Glauben, weil wir sie in gescheiten Büchern zu finden hoffen, bei Autoritäten und Kapazitäten, während sie auf unserer ganz normalen Lebensstraße liegt, die vor unserer Haustür beginnt? Heinz Zahrnt hat diese Erfahrung einmal in den Satz gegossen: „Der Weg zum Glauben führt, darin der Menschwerdung folgend, durch die Stalltür unserer eigenen Erfahrungen und gewöhnlichen Verhältnisse.“ Ob wir die Weisheit finden, entscheidet sich jetzt an unserer Aufmerksamkeit für die kleinen Dinge vor unserer Haustür. Du kannst sie nie herbeizwingen, du kannst nur offen sein für sie, denn die Weisheit “geht selbst umher, um die zu suchen die ihrer würdig sind; freundlich erscheint sie ihnen auf allen Wegen und kommt denen entgegen, die an sie denken“ (V. 16). Eines brauchst du allerdings, um dich von ihr finden zu lassen. Das Buch der Weisheit nennt es „Verlangen nach Gottes Worten“ und „Halten der Tora, Halten der Gebote“. Das heißt, die eigene Tradition schätzen, eine positive Voreinstellung zu den Worten haben, die dir deine eigene Tradition bereitstellt, um deinen Alltag zu gestalten. Es behauptet, wenn du Stichworte aus deiner gläubigen Tradition im Hinterkopf hast und mit ihnen aus der Haustür in deinen Alltag hineingehst, in deine Arbeit, in die tägliche Begegnungen, in die schwierigen Gespräche, dann gewinnt dein Leben eine besondere Qualität und Tiefe. Auf der Hintergrundfolie dieser Worte stehen dir Entscheidungsmuster zur Verfügung und auf viele Situationen deines Alltags fällt von diesen Worten her ein besonderes Licht. Und oft bekommst du einen besonderen Blick geschenkt. Dazu braucht es nur die eine Bereitschaft, wie sie Paul Roth einmal formuliert hat:

Einmal am Tag, da solltest du
Ein Wort in deine Hände nehmen,
ein Wort der Schrift.

Sei vorsichtig,
es ist so schnell erdrückt
und umgeformt,
damit es passt.

Versuch nicht hastig,
es zu „melken“,
zu erpressen,
damit es Frömmigkeit absondert.

Sei einfach einmal still.
Das Schweigen, Hören, Staunen
Ist bereits Gebet
Und Anfang aller Wissenschaft und Liebe.

Betast das Wort von allen Seiten,
dann halt es in die Sonne
und leg es an das Ohr
wie eine Muschel.

Steck es für einen Tag
Wie einen Schlüssel
In die Tasche,
wie einen Schlüssel zu dir selbst.
Fang heute an!...

(Paul Roth)

Lied: 614/1+2


Liebe Leser, dieser Ratschlag aus dem Weisheitsbuch, wie man den Weg zu einem gelungenen Leben finden kann, ist in eine besondere Kunstform gebracht, in eine Weisung an Könige. In dieser raffinierten Form drückt das Buch die Überzeugung aus: Das ist der Königsweg zu einem gelungenen Leben, mit Stichworten aus deiner gläubigen Tradition dein ganz normales und oft banales Leben zu meistern: „Verlangt also nach meinen Worten und ihr werdet Belehrung empfangen.“ (V. 11) Und dieser Königsweg ist von jedem Menschen beschreitbar.

Als Gemeindepfarrer darf ich es immer wieder erleben, wie Menschen diesen Weg gehen. Wie sie sich von Stichworten aus der eigenen Tradition im Alltag leiten lassen möchten, diese Worte als Schlüssel zu einem Leben in Tiefe und als Hilfe zur Orientierung und Bewältigung ihres Alltags empfinden.
Es wird ruhig im Firmgottesdienst, wenn 17-jährige Jugendliche bei der Firmung vor den Bischof hintreten und sich ganz bewusst ihren Firmspruch als Lebensmotto zusagen lassen:
Da wünscht sich Olga die Worte: „Dein Ja sei ein Ja, dein Nein sei ein Nein!“(Mt 5,37).
Irina hat sich ein hartes Wort ausgesucht, bei dem ein echtes Erschrecken durch die Bankreihen geht: „Wenn deine Hand dich zum Bösen verführt, dann hau sie ab; es ist besser für dich, verstümmelt in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen!“ (Mk 9,43)
Wie Balsam für die Seele wirken dagegen die drei Worte für Katharina: „Hab keine Angst!“ (Mk 4,40)
Und jeder rätselt, wie Alena auf das Wort aus dem Buch Kohelet kommt: „Das Wissen eines Menschen macht seine Miene strahlend und seine strengen Züge lösen sich.“ (Koh 8,1)
Das Erstkommunionkind wird nicht so schnell den Wunsch vergessen, den ihm sein Vater in das neue Gesangbuch als Widmung geschrieben hat: „Liebes Kind, mögen die Gebete und Lieder in diesem Buch dir Halt und Tost im Leben schenken, wie sie auch deiner Mutter und deinem Vater im Leben geholfen haben.“
Und ich werde die Besuche bei einem 90-jährigen Russlanddeutschen in Erinnerung behalten. Fast jedes Mal, wenn ich ihn auf der Straße traf, sagte er mir: „Wer auf Gott vertraut, der hat auf keinen Sand gebaut!“ Und wenn ich mich nach einem Besuch bei ihm auf den Heimweg machte, jedes Mal das gleiche Ritual: „Herr Pfarrer jetzt sing ich noch a Liadl!“ Und ein Mann, der nicht lesen und schreiben konnte, sang aus seinem religiösen Liedschatz aus der Gegend von Odessa zu Herzen gehende Weisen. Und jedes Mal durfte ich spüren: Diese Melodien, diese Worte haben einen Menschen im Leben getragen. Und sie taten es auch im Sterben.

Lied: Gottes Wort ist wie Licht in der Nacht oder 614/3 oder Arvo Pärt:
„O Weisheit“


Den Schlüssel zu einem gelingenden Leben finden, danach sehnen wir uns. Mit einem Gebet aus unserer Zeit bitten wir um diese Gnade:

Suchende sind wir Herr, nach einem Sinn.
Lass uns finden hinter den Worten dein Wort.
Tastende sind wir, Herr nach einem Grund.
Lass uns greifen hinter den Sätzen dein Geheimnis.
Hoffende sind wir, Herr, auf ein Zeichen.
Lass uns lesen zwischen den Sätzen dein Antlitz.
Wartende sind wir, Herr, auf ein Echo.
Lass uns hören zwischen den Pausen dein Atmen.


Und mit Worten der Dichterin Eva Zeller danken wir, dass wir manchmal spüren dürfen: Worte aus unserer christlichen Tradition geben uns Deutungs- und Sinnmuster für unser Leben mit auf dem Weg. Das Gedicht trägt die Überschrift „Das unverschämte Glück“:

es lese, um
es zu lesen, ich
habe nur das
unverschämte Glück,
am Tropf dieser
Worte zu hängen.

Diesen Segen, dieses dankbare Gefühl wünsche ich Ihnen heute von Herzen.


Pfarrer Stefan Mai

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