Vorboten des Todes

Friedhofsansprache am Allerheiligentag 2005

Das Märchen „Die Boten des Todes“ von den Gebrüdern Grimm erzählt davon, wie eines Tages der Tod auf der Landstraße von einem Riesen k. o. geschlagen wird und hilflos am Straßenrand liegen bleibt. Da kam ein junger Mensch des Wegs und hatte mit dem Ohnmächtigen Mitleid. Er gab ihm zu trinken und der Tod kam wieder zu Kräften. „'Weißt du auch,' fragte er, 'wer ich bin, und wem du wieder auf die Beine geholfen hast?' 'Nein,' antwortete der Jüngling, 'ich kenne dich nicht.' 'Ich bin der Tod,' sprach er, 'ich verschone niemand und kann auch mit dir keine Ausnahme machen. Damit du aber siehst, dass ich dankbar bin, so verspreche ich dir, dass ich dich nicht unversehens überfallen, sondern dir erst meine Boten senden will, bevor ich komme und dich abhole.' 'Wohlan,' sprach der Jüngling, 'immer ein Gewinn, dass ich weiß, wann du kommst, und so lange wenigstens sicher vor dir bin.' Dann zog er weiter, war lustig und guter Dinge und lebte in den Tag hinein. Allein Jugend und Gesundheit hielten nicht lange aus, bald kamen Krankheiten und Schmerzen, die ihn bei Tag plagten und ihm nachts die Ruhe wegnahmen. 'Sterben werde ich nicht,' sprach er zu sich selbst, 'denn der Tod sendet erst seine Boten, ich wollte nur, die bösen Tage der Krankheit wären erst vorüber.' Sobald er sich gesund fühlte, fing er wieder an in Freuden zu leben. Da klopfte ihn eines Tages jemand auf die Schulter: er blickte sich um, und der Tod stand hinter ihm und sprach 'folge mir, die Stunde deines Abschieds von der Welt ist gekommen.' 'Wie,' antwortete der Mensch, 'willst du dein Wort brechen? hast du mir nicht versprochen, dass du mir, bevor du selbst kämest, deine Boten senden wolltest? ich habe keinen gesehen.' 'Schweig,' erwiderte der Tod, 'habe ich dir nicht einen Boten über den andern geschickt? kam nicht das Fieber, stieß dich an, rüttelte dich und warf dich nieder? hat der Schwindel dir nicht den Kopf betäubt? zwickte dich nicht die Gicht in allen Gliedern? brauste dir’s nicht in den Ohren? nagte nicht der Zahnschmerz in deinen Backen? wird dir’s nicht dunkel vor den Augen? Über das alles, hat nicht mein leiblicher Bruder, der Schlaf, dich jeden Abend an mich erinnert? lagst du nicht in der Nacht, als wärst du schon gestorben?' Der Mensch wusste nichts zu erwidern, ergab sich in sein Geschick und ging mit dem Tode fort.“
Das Märchen ist überzeugt: Für die meisten Menschen kommt der Tod nicht überraschend. Im Lauf eines Lebens begegnen einem genug Vorboten des Todes. „Nimm sie ernst!“, rät das Märchen. Sie wollen dich an deinen Tod erinnern und dir helfen, dass du dich Stück für Stück darauf vorbereiten kannst. Wenn dir das gelingt, brauchst du im Moment des Todes nicht erschrecken.
Das Märchen spricht volkstümlich eine Mahnung aus. Der Theologe Lukas zeigt uns in der Sterbeszene Jesu ein positives Beispiel. Fast unglaublich, mit welch stoischer Ruhe Jesus hier am Kreuz seinen brutalen Tod besteht. Kein Verzweiflungsschrei, kein letztes Aufbäumen. Bei Lukas stirbt Jesus erhaben und gelassen mit dem Abendgebet eines frommen Juden auf den Lippen: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46 = Ps 31,6).
Aber nach Lukas hat es seinen Grund, dass Jesus so gelassen sterben kann. Denn er hat die Angst vor dem Tod schon längst durchgelitten und durchgekämpft: im Garten Getsemani. Lukas erzählt es so: Die Angst vor dem Tod packt Jesus dort so, dass er in Schweiß ausbricht und mit Gott im Gebet ringt. Welch ein Bild: „… und sein Schweiß tropfte wie Blut zur Erde.“ Erst nachdem er durch diese Hölle der Angst gegangen ist, kann er sich wieder aufrichten – und gelassener den Weg aufs Kreuz zugehen.
Liebe Leser, uns allen jagt manchmal die Angst den Schweiß ins Gesicht oder einen kalten Schauer durch die Glieder, bringt uns zum Zittern oder zum Erstarren. Jeder hat sein Getsemani, jeder hat seine Ölbergstunden. Wenn ich auf das Märchen von den Boten des Todes, wenn ich auf das Lukasevangelium schaue, dann sind das nicht einfach sinnlose Querschläger im Leben, sondern sind – so brutal es klingen mag – Sterbehelfer. Denn alles, was ich schon einmal durchgestanden habe, macht mich erfahrener und kann den großen Schrecken nehmen, wenn mir wirklich einmal das letzte Stündlein schlägt.


Pfarrer Stefan Mai

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