„Lehre mich herabzusteigen, ohne herunterzukommen!“

Predigt zum 26. Sonntag im Jahreskreis (Phil 2,1-11)

Er war nur ein kleines dürres Männchen, mit einem zerfurchten Gesicht und einem verschmitzten Lächeln darauf, aber er war eine der ganz Großen unserer Kirche, der ehemalige Erzbischof von Olinda und Recife in Brasilien, Dom Helder Camara. Für die Armen seiner Diözese war er ein Stern der Hoffnung, für die Reichen wurde er zum Stein des Anstoßes. Von den einen wurde er für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, von den anderen als Kommunist verunglimpft. Schon vor über 30 Jahren warnte er die reichen Industrienationen: „Wir alle haben nur eine Chance zu überleben, wenn die reichen Staaten der Erde die schlimmste aller Waffen, die Bombe des Elends, entschärfen.“ Sein Platz war unten bei den einfachen Leuten, er wohnte nicht in einem großen Bischofspalais, sondern in der Sakristei seiner Kirche. Seine Tür stand offen für die einfachen Menschen. Diese lagen ihm besonders am Herzen und in großer Ehrfurcht schaut er auf ihr Leben, das in der Öffentlichkeit nichts zählt. Unvergesslich die Worte: „Wenn Arbeit der kleinen Leute das Hemd durchnässt, schau dich um, und du wirst sehen, dass Engel die Schweißtropfen einsammeln, als seien es Diamanten.“ Woher nahm dieser kleine Mann die Lebenskraft im Einsatz für die Kleinen und Benachteiligten für über neun Jahrzehnte?

Nach seinen eigenen Worten: aus der Meditation und aus dem Gebet. Täglich ließ er sich dafür nachts um zwei Uhr von seinem Wecker wecken, um in der Stille der Nacht eine Stunde lang nachzudenken und zu beten. In diesen Stunden sind geistliche Texte entstanden, schlicht, schön und tief. Er hat sie nicht aufgeschrieben, um sie zu veröffentlichen. Er verknüpfte mit ihnen keinerlei literarischen Zweck oder Ehrgeiz. Hätten ihn seine Freunde nicht dazu gedrängt, sie zu veröffentlichen, sie wären heute verloren. Alltägliche Dinge und Erlebnisse schaut er in einem aufmerksamen Blick an. Und so werden sie ihm zu Gleichnissen und lassen oft ein überraschendes Licht auf das Leben fallen. So auch die Zeilen über einen Aufzug. Sie lauten:

Die Stockwerke folgen einander:
Das zehnte, elfte, zwölfte, dreizehnte, vierzehnte...,
und ich bete ganz leise, innerlich:
„Entreiss uns dem Vergänglichen!
Erheb uns zu Dir!
Lass uns nicht Wurzel schlagen im Land der Menschen.“

Die Stockwerke folgen einander:
Das sechzehnte, fünfzehnte, vierzehnte, dreizehnte...,
und ich bete in Gedanken:
„Der Du vom Himmel herabgestiegen,
Der Du Fleisch geworden bist,
lehre mich
herabzusteigen, ohne herunterzukommen!“

(aus: Helder Camara, mach aus mir einen Regenbogen. S. 11)

In einem Aufzug eines Ordinariats soll einmal der bissige Spruch gehangen haben:
„Wir dienen alle gern, aber besonders gern in gehobener Stellung.“
Einen Dom Helder lehrt der Aufzug nicht die Karrierelaufbahn, nicht das nach oben schielen. Ihn lehrt der Aufzug vor allem die richtige Einstellung, bei den Menschen unten zu sein:

„Der Du vom Himmel herabgestiegen,
Der Du Fleisch geworden bist,
lehre mich
herabzusteigen, ohne herunterzukommen!“

Ich kenne keine bessere Predigt als diese Gedanken von Dom Helder über die heutige Lesung aus dem Philipperbrief, in dem Paulus die Lebenseinstellung Jesu als Vorbild für die Christen aus Philippi vor Augen stellt:
„Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.“
„Der Du vom Himmel herabgestiegen,
Der Du Fleisch geworden bist,
lehre mich
herabzusteigen, ohne herunterzukommen!“
Und ich bin auch von dem überzeugt: Wo Menschen diesem Lebensbeispiel Jesu aus innerster Überzeugung folgen, da hat ihr Leben eine große Ausstrahlung, dann gilt auch für ihr Leben, was Paulus vom Leben Jesu sagt: „Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen.“
Dafür steht der kleine Erzbischof aus Brasilien Pate. Und das sollte sich mancher Politiker und Kirchenmann hinter die Ohren schreiben.


Pfarrer Stefan Mai

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