Nochmals mit Jesus konfrontieren

Predigt zum 24. Sonntag im Jahreskreis (Mt 18,21-35)

Einleitung

„In jedem Menschen, auch im schlechtesten, gibt es eine Stelle, die für das Gute empfänglich ist.“ Glauben Sie diesem Satz? Der große Erzieher Don Bosco glaubte daran und meinte: „Es ist wichtig, diese Stelle zu entdecken und daraus Nutzen zu ziehen.“ Und er hatte Erfolg mit dieser Devise.

Predigt

Jede Gemeinschaft muss sich Regeln überlegen, wie sie mit Mitgliedern umgeht, die dem Gemeinschaftssinn zuwiderhandeln. Die junge christliche Gemeinde hat sich in der sogenannten Gemeinderegel (Mt 18,15-20) ein klar gestaffeltes Procedere im Umgang mit einem Schuldiggewordenen erarbeitet, das wir am letzten Sonntag als Evangelium gehört haben. Stufe 1: Die Zurechtweisung unter vier Augen – Hat sie keinen Erfolg, Stufe 2: Das Gespräch unter Hinzuziehung weiterer Personen – Bringt auch dies nicht weiter, Stufe 3: Die Bereinigung des Deliktes vor der ganzen Gemeinde. Zeigt auch dies keinen Erfolg: Ausschluss des Schuldigen aus der Gemeinde.
Wahrlich, die urchristliche Gemeinde hat es sich bei der Aufstellung dieser Regel selbst nicht leicht gemacht.

Erst nach all diesen mühsamen Vermittlungs- und Versöhnungsver-suchen ist die christliche Gemeinde nach dieser alten Regel berechtigt, den Schuldiggewordenen auszuschließen, ihn als „Zöllner und Heiden“ zu behandeln, d.h. ihm zu signalisieren: „Du kannst uns gestohlen bleiben. Mit dir sind wir fertig.“ Eigentlich müsste man sagen: Respekt vor dieser Gemeinde und ihrer Geduld und ihrem echten Versöhnungswillen, der viele Weg offen lässt.

Aber der Leiter dieser christlichen Gemeinde, der Evangelist Matthäus ist nicht fertig. Er fängt wieder zu grübeln an und fragt sich: Kann diese unsere Regel vor Jesus standhalten. Kann sie vor seiner Lebenshaltung Stand halten, vor dem, wie Jesus mit Menschen umgegangen ist? Wäre sie wirklich in seinem Sinn? Und Matthäus kommt ins Zweifeln …

In seinem Evangelium konfrontiert er diese alte Gemeinderegel noch einmal mit anderen Worten Jesu. Ganz bewusst setzt er ein weiteres Jesuswort hinzu: „Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten ...“ Das heißt, wenn alle Versöhnungsversuche scheitern dann hofft auf die Kraft des Gebetes bei der Zurückgewinnung des schuldig gewordenen Gemeindemitglieds. Und Mt setzt noch eins drauf. Er verknüpft diese Worte mit einer Petrusszene: Petrus kommt sich recht großzügig vor, wenn er Jesus fragt: „Herr wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal?“ Er erwartet Lob für seine Großzügigkeit, bekommt aber vor den Latz geknallt: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal. Und sofort danach wird das Gleichnis vom barmherzigen Herrn erzählt, was nichts anderes will als die unendliche Vergebungsbereitschaft Gottes vor Augen zu stellen, deren jeder Mensch bedarf. Und diese empfangene Vergebung bedeutet nach Mt Verpflichtung zur Barmherzigkeit gegenüber dem Mitmenschen.

Ein wahres Plädoyer für eine Vergebungsbereitschaft von ganzem Herzen, für eine Vergebungsbereitschaft ohne Grenze. Zigmal haben wir dieses Evangelium gehört und immer wieder stößt uns sein Inhalt auf. Immer wieder schrecken wir vor dieser grenzenlosen Vergebungsbereitschaft zurück, weil wir an ihrer positiven Wirkung letzten Endes nicht glauben können.

Dass diese möglich ist, das zeigt mir ein Beispiel aus dem Leben eines Ureinwohnerstammes in Südafrika, aus dem Verhaltenskodex der
Babemba. Bei ihnen ist es die Regel:
Wenn ein Stammesmitglied ungerecht gewesen ist oder unverantwortlich gehandelt hat, wird es in die Dorfmitte gebracht, aber nicht daran gehindert wegzulaufen. Alle im Dorf hören zu arbeiten auf und versammeln sich um den Angeklagten. Dann erinnert jedes Stammesmitglied, ganz gleich welchen Alters, die Person in der Mitte daran, was sie in ihrem Leben Gutes getan hat. Sie haben richtig gehört! Der Angeklagte wird daran erinnert, was er Gutes getan hat. Alle seine positiven Eigenschaften, seine guten Taten, seine Stärken und seine Güte werden dem Angeklagten in Erinnerung gerufen. Alle, die den Kreis um ihn herum bilden, schildern dies sehr ausführlich. Die einzelnen Geschichten über diese Person werden mit absoluter Ehrlichkeit und großer Liebe erzählt. Es ist niemandem erlaubt, das Geschehene zu übertreiben, und alle wissen, dass sie nichts erfinden dürfen. Die Zeremonie wird so lange fortgeführt, bis jeder im Dorf mitgeteilt hat, wie sehr er diese Person als Mitglied der Gemeinde schätzt und respektiert. Am Ende wird der Kreis geöffnet. Ist der Angeklagte bereit, wieder neu zu beginnen, findet ein fröhliche Feier statt.

Liebe Leser! Der Stamm der Babumba hat nie etwas von Jesus und seinem Plädoyer für diese grenzenlose Vergebungsbereitschaft gehört. Aber meinen sie nicht auch: Dieser Eingeborenenstamm hat Jesus besser verstanden als 90% der Christen?


Pfarrer Stefan Mai

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