Verlust oder Gewinn?

Predigt zum 22. Sonntag im Jahreskreis (Mt 16,21-27)

Eine Geschichte aus China erzählt: Ein alter Mann mit Namen Chunglang besaß ein kleines Gut in den Bergen. Eines Tages begab es sich, dass er eins von seinen Pferden verlor. Da kamen die Nachbarn, um ihm zu diesem Unglück ihr Beileid zu bezeugen. Der Alte fragte: „Woher wollt ihr wissen, dass das ein Unglück ist?“ Und siehe da: Einige Tage darauf kam das Pferd wieder und brachte ein ganzes Rudel Wildpferde mit. Wiederum erschienen die Nachbarn und wollten ihm zu diesem Glücksfall gratulieren. Der Alte vom Berg aber versetzte: „Woher wollt ihr wissen, dass es ein Glücksfall ist?“ Seit nun so viele Pferde zur Verfügung standen, begann der Sohn des Alten eine Neigung zum Reiten zu fassen, und eines Tages brach er sich das Bein. Da kamen sie wieder, die Nachbarn, um ihr Beileid zum Ausdruck zu bringen. Und abermals sprach der Alte zu ihnen: „Woher wollt ihr wissen, dass dies ein Unglücksfall ist?“ Einige Zeit darauf erschienen Soldaten in den Bergen, um kräftige Männer für den Kriegsdienst des Kaisers und als Sänftenträger zu holen. Den Sohn des Alten, der noch immer seinen Beinschaden hatte, nahmen sie nicht mit. Chunglang musste lächeln.

Die Moral von der Geschicht? Wenn dich im Leben ein Verlust ereilt, so schmerzt dies, aber denk zugleich: Dieser Verlust kann einen tieferen Sinn in sich tragen. Vielleicht sogar eine Chance und eine ungeahnte Möglichkeit sein. Wer weiß schon, was der längerfristige Sinn dieses Verlustes sein wird? Wenn du wie ein Glückspilz oder der große Gewinner da stehst, du weißt es nicht, ob das wirklich für dich im Leben gut ist. Oft gewinnt im Leben, wer scheinbar verliert.

Diese chinesische Geschichte ist für mich eine Verstehensbrücke zu dem harschen Ton, mit dem Jesus auf den gut gemeinten Einwand des Petrus reagiert. Schließlich möchte Petrus nur seinen Freund Jesus vor Leid bewahrt wissen. Doch dies wird als gefährliche vordergründige Denke verteufelt. Und die Geschichte von Chunglang ist eine Verstehensbrücke zu den schwierigen und harten Sätzen, die Jesus als Belehrung hinterherschickt: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren. Wer sein Leben aber um meinetwillen verliert, wird es gewinnen.“ Auch Jesus ist überzeugt: Manches, was wie ein unzumutbare Zumutung oder als unüberwindbarer Verlust erscheint, entpuppt sich später manchmal als großer Segen. So manche Krisen im Leben, so manche gesundheitliche Warnschüsse, so manche durchkreuzten Lebenspläne tragen im Innersten – Jahre später betrachtet - einen Sinn.
Und auf der anderen Seite: Was als großer Erfolg oder beneidenswerte Karriere aussah, entpuppte sich als Fluch. Es ist erstaunlich, wie leicht Menschen „Leben“ verlieren können, wenn sie auf „Teufel komm raus“ versuchen, „Leben“ zu gewinnen. Da wird gearbeitet von früh bis spät, bis einem der Atem ausgeht, bis sich zunächst unmerklich und dann immer augenfälliger die Krise in der Beziehung einschleicht. Jemand will mit all seinem Tun und Schaffen das Leben gewinnen – und verliert das, was im Leben das Wertvollste ist: Menschen, die ihm lieb sind, ja oft genug sich selbst. Und für was eigentlich?

Da kamen die Nachbarn, um Chunglang zu diesem Unglück ihr Beileid zu bezeugen. Der Alte fragte: „Woher wollt ihr wissen, dass das ein Unglück ist?“... Wiederum erschienen die Nachbarn und wollten ihm zu diesem Glücksfall gratulieren. Der Alte aber antwortete: „Woher wollt ihr wissen, dass es ein Glücksfall ist?“
Und Jesus behauptet: So mancher der sein Leben gewinnen will, verliert es dabei.


Pfarrer Stefan Mai

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